Alpenblumen-App-Erfinderin Renata Caviglia im Interview
«Was rar ist, empfindet der Mensch als wertvoll»

Gerade blühen in den Bergen wieder unzählige Blumen. Doch was sieht man da? Wir haben die Erfinderin einer Alpenblumen-App gefragt: Renata Caviglia (68). Im Interview spricht sie über ihre Lieblingsblume, Orchideen-Diebstahl und ihre neue Leidenschaft: das Fernwandern.
Publiziert: 29.06.2024 um 15:16 Uhr
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Aktualisiert: 01.07.2024 um 09:50 Uhr
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Renata Caviglia brachte die App Alpenblumen Finder Europa 2012 in den App-Store. Rund 310 Blumen fotografierte sie über Jahre für die App.
Foto: zvg
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Die Blumen stört das schlechte Wetter der letzten Wochen nicht. Der Bergfrühling hat schon länger begonnen. Was sieht man derzeit, und wo?
Jetzt sollten ganz viele Enziane und Orchideen blühen, darunter vor allem Knabenkräuter. Viele Orchideenwiesen hat es in der luzernischen Biosphäre Entlebuch, in der Umgebung von Alpnach in Obwalden, in der Fräkmünt-Gegend, das im Pilatus-Gebiet liegt. Weiter oben ist weniger zu sehen. Da liegt noch Schnee.

Gehört zu den Orchideenarten: das Knabenkraut.

Steht der Schnee den Blumen im Weg?
Der Schnee ist auch eine Chance. In den Skigebieten, wo die Pisten sind, bleibt er länger liegen. Im Kühboden im Wallis habe ich an Stellen, wo vorher die Piste war, schon oft Krokusse gesehen. Und das im Sommer. Solche Überraschungen sind das Tolle an den Bergen. Plötzlich steht man in hohen Lagen vor Blumen, die weiter unten schon lange verblüht sind. Bei Frühlingsenzian, Soldanelle, wilden Primeln und der Alpen-Aurikel kann das gut passieren.

Die Blumen-Finderin

Renata Caviglia ist 1955 geboren und in Luzern aufgewachsen. Erst machte sie die Handelsschule, dann die Betriebswirtschaftsschule. Sie arbeitete danach im administrativen Bereich. Daneben ging sie ihren vielen Interessen nach. 1996 eröffnete sie den ersten Frauen-Musikladen in Luzern, wo sie CDs verkaufte und Konzerte organisierte. Später besuchte sie Kurse in Fotografie und Webdesign. 2012 ging die erste Version der Alpenblumen-Finder-App in den App-Store. Hinzu kam die App «Wildblumen-Finder Schweiz». Beide findet man nur im Apple-Store. Sie helfen durch Angaben zu Namen, Foto und Eigenschaften, die Blumen zu bestimmen. Renata Caviglia hat drei erwachsene Kinder. Sie lebt in Luzern.

Renata Caviglia ist 1955 geboren und in Luzern aufgewachsen. Erst machte sie die Handelsschule, dann die Betriebswirtschaftsschule. Sie arbeitete danach im administrativen Bereich. Daneben ging sie ihren vielen Interessen nach. 1996 eröffnete sie den ersten Frauen-Musikladen in Luzern, wo sie CDs verkaufte und Konzerte organisierte. Später besuchte sie Kurse in Fotografie und Webdesign. 2012 ging die erste Version der Alpenblumen-Finder-App in den App-Store. Hinzu kam die App «Wildblumen-Finder Schweiz». Beide findet man nur im Apple-Store. Sie helfen durch Angaben zu Namen, Foto und Eigenschaften, die Blumen zu bestimmen. Renata Caviglia hat drei erwachsene Kinder. Sie lebt in Luzern.

Auf welcher Höhe finden Sie die interessantesten Blumen?
Am besten gefällt es mir ab 2000 Metern. Dort fängt es ab Juli und August an, zu blühen. Aber nur kurz. Je höher, desto weniger Zeit haben die Blumen dafür. Vor allem, wenn der alte Schnee wie dieses Jahr spät schmilzt und der nächste bald kommt. Dort findet man das Edelweiss. Oder den Himmelsherold, ein kleines extrem blaues Blüemli. Die Blüte sieht aus wie ein Vergissmeinnicht. Extrem schön. Er wächst ab 2500 Metern in den Felsen.

Blauer Enzian.
Foto: Getty Images

Haben Sie eine Lieblingsblume?
Der Gelbe Frauenschuh. Er ist die grösste wild lebende Orchidee in Europa und blüht derzeit auch. Lange kannte ich ihn nur von Bildern. Irgendwann wollte ich ihn für die Alpenblumen-App fotografieren und suchte ganz gezielt danach. Ich fand ihn in der Umgebung Goldau im Kanton Schwyz. Den sieht man sonst nicht oft.

Warum gerade dort?
Das hat mit dem Bergsturz von 1806 zu tun. Auf diesem Gebiet haben sich viele besondere Pflanzen- und Tierarten neu angesiedelt. Unter anderen ganz viele wilde Orchideen. Als ich den Gelben Frauenschuh dort zum ersten Mal sah, war ich überwältigt.

Der Gelbe Frauenschuh.
Foto: imago/imagebroker

Warum?
Er ist grösser, als ich dachte. Er ragte fast bis zu meinem Knie. Dann diese sehr schöne Blüte mit der bauchigen zitronengelben Lippe, die ein bisschen absteht. Durch die rotbraunen Blütenblätter, die die Lippe einrahmen, leuchtet das Gelb richtig. Mir gefällt der französische Name dieser Orchidee: Sabot de Vénus. Sabot heisst übersetzt Holzschuh. So sieht er auch aus. Wunderbar.

Das Markenzeichen der Schweiz: Edelweiss

Das Edelweiss (Leontopodium alpinum) ist meist in 2000 bis 3000 Meter Höhe anzutreffen. Es blüht von Juli bis September auf exponierten Kalksteinfelsen, manchmal auch an Wiesenrändern. Obwohl es zart wirkt, ist es an extreme Wetterbedingungen angepasst. Die behaarten Blütenblätter hemmen zum Beispiel die Verdunstung und schützen vor UV-Strahlung. Das Edelweiss gehört nicht zu den bedrohten Arten, ist aber in den meisten Kantonen geschützt.

Getty Images

Das Edelweiss (Leontopodium alpinum) ist meist in 2000 bis 3000 Meter Höhe anzutreffen. Es blüht von Juli bis September auf exponierten Kalksteinfelsen, manchmal auch an Wiesenrändern. Obwohl es zart wirkt, ist es an extreme Wetterbedingungen angepasst. Die behaarten Blütenblätter hemmen zum Beispiel die Verdunstung und schützen vor UV-Strahlung. Das Edelweiss gehört nicht zu den bedrohten Arten, ist aber in den meisten Kantonen geschützt.

Müssen Sie sich zurückhalten, um die Blumen nicht zu pflücken?
Das kommt mir nie in den Sinn. Ich habe grossen Respekt vor der Natur. Mir haben schon Leute ein E-Mail geschrieben und gefragt, warum in der App nicht steht, welche Blumen man essen kann. Ich will, dass man sie mit den Augen geniesst. Edelweiss wären essbar, doch die sind geschützt. Es gibt viele Gebiete, in denen alle Pflanzen geschützt sind. Die muss man sicher nicht pflücken und in den Salat schnätzlen.

Auf diese Idee kommt man doch nicht, oder?
Ich erzähle ihnen jetzt etwas. Der Gelbe Frauenschuh ist auch geschützt. In manchen Ländern in Europa kommt er schon gar nicht mehr vor. Es gibt Leute, die fahren an Orte mit seltenen Orchideen und stehlen zu Dutzenden Frauenschuh-Orchideen samt Wurzeln. Sie verkaufen sie dann auf dem Schwarzmarkt. In manchen Gegenden der Schweiz, wo geschützte Orchideen wachsen, halten es die, die davon wissen, geheim.

Warum sind Blumen den Menschen so wichtig? Allein über 20’000 Menschen haben Ihre Alpenblumen-App gekauft.
Vielleicht faszinieren sie so, weil die Natur immer weniger wird. Wir bauen alles zu. Die Nutzung durch Wohnbau und Landwirtschaft nimmt überhand. In den überdüngten Gebieten wächst nur noch der Löwenzahn. Ich wuchs in Luzern auf. Neben unserem Haus gab es viele Wiesen mit Schlüsselblumen. All diese Wiesen sind verschwunden. Es gibt kaum noch Räume in besiedelten Gebieten, wo viele Arten auf einem Haufen ungestört gedeihen können. Das macht viel mit uns. Was rar ist, empfindet der Mensch als wertvoll.

Viele gefährdete Arten

17 Prozent aller bekannten Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz sind laut Bundesamt für Umwelt (Bafu) vom Aussterben bedroht oder stark gefährdet. Weitere 16 Prozent gelten als «verletzlich» – ihr Bestand ist in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent geschrumpft. Im Vergleich zu den Nachbarländern ist der Anteil gefährdeter oder ausgestorbener Arten in der Schweiz besonders hoch. Von den Arten, die nur oder vor allem in der Schweiz vorkommen, steht fast die Hälfte auf der Roten Liste. Diese gibt über den Gefährdungsstatus von Arten Auskunft. Mehr Infos dazu auf Infoflora.ch.

17 Prozent aller bekannten Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz sind laut Bundesamt für Umwelt (Bafu) vom Aussterben bedroht oder stark gefährdet. Weitere 16 Prozent gelten als «verletzlich» – ihr Bestand ist in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent geschrumpft. Im Vergleich zu den Nachbarländern ist der Anteil gefährdeter oder ausgestorbener Arten in der Schweiz besonders hoch. Von den Arten, die nur oder vor allem in der Schweiz vorkommen, steht fast die Hälfte auf der Roten Liste. Diese gibt über den Gefährdungsstatus von Arten Auskunft. Mehr Infos dazu auf Infoflora.ch.

Schade, dass es so weit kommen muss.
Es hat auch sein Gutes. Man fördert Naherholungsgebiete um die Städte herum. In Luzern ist das die Allmend, wo früher eine Schiessanlage war. Die Behörden liessen tonnenweise Patronenblei abtransportieren und machten ein Naherholungsgebiet daraus. Jetzt wachsen dort Wildblumen.

Was macht eigentlich der Klimawandel mit der Flora?
Im Kühboden auf der Fiescheralp im Kanton Wallis war ich schon oft mit der Kamera unterwegs. Dort sieht man, wie die Baumgrenze weiter hochwandert. Das ist sicher auch anderswo der Fall. Die Blumen werden folgen. Die, die hochalpin wachsen, brauchen einen richtigen Winter. Bei denen besteht die Gefahr, dass sie irgendwann ganz verschwinden.

Ziehen Sie eigentlich allein los?
Meistens, ja. Wenn jemand mitkommt, habe ich immer das Gefühl, ich müsse beim Fotografieren schnell machen.

Renata Caviglia mit der Kamera im Gebiet Heiligkreuz im Kanton Luzern unterwegs.

Was geben Ihnen die Berge, was Sie sonst nicht finden?
Die Ruhe. Die Luft. Ab einer gewissen Höhe ist diese sehr dünn. Wenn ich einatme, spüre ich eine Frische. Das liebe ich. Auch die Bewegung, ich brauche das. Und dann ist noch das Schauen. Man sieht in die Weite, das gibt einen anderen Blick auf die Welt und das eigene Leben. Und man sieht Farben, die Stadt ist fade dagegen.

Blumen und ihre Farben

Blumen leuchten in allen Farben. Vor allem in den Bergen. Die vielen Farben haben eine ganz bestimmte Funktion: Sie helfen den Blumen, sich zu schützen und zu vermehren. Gerade in der Höhe ist die UV-Strahlung besonders stark, die Farbpigmente dienen als Schutz dagegen. Und im Frühling sorgen sie dafür, dass viele Bienen, Wespen, Hummeln und Co. angelockt werden und die Blüten bestäuben.

Blumen leuchten in allen Farben. Vor allem in den Bergen. Die vielen Farben haben eine ganz bestimmte Funktion: Sie helfen den Blumen, sich zu schützen und zu vermehren. Gerade in der Höhe ist die UV-Strahlung besonders stark, die Farbpigmente dienen als Schutz dagegen. Und im Frühling sorgen sie dafür, dass viele Bienen, Wespen, Hummeln und Co. angelockt werden und die Blüten bestäuben.

Hat sich das ‹z Berg gehen› mit dem Alter für Sie verändert?
In den letzten Jahren bin ich etwas weniger in den Bergen unterwegs. Aber nicht, weil ich älter geworden bin. (Lacht.)

Sondern?
Mich hat das Fernwandern gepackt. Ich wandere seit mehreren Jahren kreuz und quer durch die Schweiz und Europa. Im September 2022 lief ich von daheim los und wanderte bis nach Burgos in Spanien. 1700 Kilometer.

Das klingt anstrengend! Warum nehmen Sie das auf sich?
Ich komme am Abend an einem neuen Ort an, übernachte und gehe am nächsten Morgen von dort weiter. Das hat eine ganz eigene Qualität. Ich komme in einen Trancezustand. Irgendwann laufen die Beine von allein. Ich denke nicht mehr daran. Es fühlt sich nicht mehr anstrengend an. Es zieht mich von selbst voran. Gleichzeitig ist es intensiv. Eine unbeschreibliche Erfahrung.

Was macht die Erfahrung unbeschreiblich?
Nach Australien reist man gerade mal zwanzig Stunden für eine enorme Distanz. Während der Körper in Perth ist, ist der Kopf noch in Luzern. Mit all seinen Alltagsgedanken. Bis der Geist den Ortswechsel verarbeitet hat, dauert es. Beim Fernwandern ist es ganz anders. Kopf und Körper stimmen überein. Was zu Hause wichtig war, spielt nach ein, zwei Tagen gar keine Rolle mehr.

Auch, weil man abgelenkt ist?
Ja, man muss sich auf das Wesentliche konzentrieren: Wie ist das Wetter, wo kann ich am Abend schlafen, was essen?

Wie sind Sie auf das Fernwandern gekommen?
Ich wollte einmal länger wandern. Wenn ich Blumen fotografiere, komme ich nicht weit. Die Anreise zu einer Stelle braucht lange, das Fotografieren auch. Ich war nie richtig lange unterwegs. Ich wollte wissen, wie das ist. So war ich immer schon: Neugier treibt mich an.

Das merkt man. Sie haben 1996 den ersten Frauen-Musikladen der Schweiz eröffnet. Wie kam das?
Ich hörte immer gerne Patti Smith, Laurie Anderson, Ani DiFranco, Aretha Franklin, Tina Turner oder Joan Baez. Viele weitere weiblichen Talente kennt niemand. Komponistinnen wie Hildegard von Bingen, Fanny Mendelssohn-Hensel oder Clara Schumann wollte ich unbedingt bekannter machen. Daraus wurde ein eigener Laden. Die Zeit war spannend. Und anstrengend! Den Laden und meine Familie finanzierte ich mit einem Bürojob mit. Ich arbeitete sehr viel.

Warum mussten Sie sechs Jahre später schliessen?
Die Leute riefen zwar aus der ganzen Schweiz bei mir an. Aber die suchten besondere CDs, die ich manchmal nur in den USA fand. Das war rüüdig viel Aufwand. Das Geld holte ich nie raus. Und die CDs von Musikerinnen, die sich gut verkauften, kriegte man irgendwann online billiger als bei mir. Der Markt für CDs war ja schon länger rückläufig. Ich bin froh, dass ich es gewagt habe. Und bereue nichts.


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