Auf einen Blick
- Utrecht ist Europas heimliche Velohauptstadt mit langer Zweirad-Geschichte
- Smarte Ampeln und «Rundum Grün»-Prinzip optimieren den Veloverkehr
- Grösstes Velo-Parkhaus der Welt bietet Platz für 12'500 Fahrräder
Menschen statt Motoren, Klingeln statt Hupen, surrende Räder statt quietschende Reifen. Willkommen in Utrecht, der viertgrössten Stadt der Niederlande – und der heimlichen Velohauptstadt Europas! Bei fahrradfreundlichen Citys denken viele zuerst an Amsterdam oder Kopenhagen. Doch bei bis zu 125'000 Menschen, die täglich das Velo benutzen, lässt Utrecht mit seinen 370'000 Einwohnerinnen und Einwohnern punkto Zweirad-Dichte die meisten anderen Städte weit hinter sich.
Die Stadt südlich von Amsterdam blickt auf eine lange und bewegte Velo-Geschichte zurück. Bereits 1885 entstand hier der erste Radweg der Niederlande. Das Velo etablierte sich in der Folge als Transportmittel der Arbeiterschicht – Autos hatten es lange Zeit schwer. So belegen Verkehrszählungen aus den 1920er-Jahren, dass manche der vielen Brücken Utrechts täglich von bis zu 12'000 Radfahrerinnen genutzt wurden, aber nur von wenigen Hundert Autos. In der Blütezeit Ende der 1930er-Jahre besass fast die Hälfte der damals 150'000 Einwohner ein Velo, 200 Fahrradgeschäfte in der ganzen Stadt buhlten um Kundschaft – ein Rekord, der bis heute Bestand hat.
Widerstand gegen «Autokratie»
Doch nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die einst so stolze niederländische Fahrradnation von der Faszination zum Auto gepackt – wie fast alle Länder Europas. Das hatte auch markante Folgen für das idyllische Utrecht: Weder Politikerinnen noch Stadtplaner wollten dem Fortschritt versprechenden Automobil im Weg stehen, sondern die von den Nazis verschonte Stadt ans motorisierte Zeitalter anpassen. Dazu sollte der historische Ringkanal trockengelegt und daraus eine Ringstrasse gemacht werden. Auch das mittelalterliche Zentrum Utrechts sollte grossflächig angepasst und autogerecht gestaltet werden.
Doch die Pläne zogen die geballte Wut der Bevölkerung auf sich, die mit ihren Protesten drei Viertel des Ringkanals und die historische Altstadt rettete. Dennoch nahm der motorisierte Verkehr in Utrecht in den darauffolgenden Jahren laufend zu – der Siegeszug des Autos war auch im Velo-Mekka nicht aufzuhalten. Doch schnell zeigten sich die Schattenseiten: Für Fahrräder war auf den teils engen Strassen kaum noch Platz, die Anzahl tödlicher Unfälle häufte sich. Das Fass zum Überlaufen brachte die Ölkrise 1973, mit der sich landesweit Widerstand gegen die «Autokratie» formierte. Mit grossen Velo-Demos eroberten sich Radfahrerinnen ein Stück des öffentlichen Raums zurück. Kinder errichteten Barrikaden, um die Strassen zu Spielplätzen umzufunktionieren. Doch statt Verständnis ernteten sie den Zorn der Autofahrer. Ähnlich wie das bei den «Critical Mass»-Demos in Zürich und vielen anderen europäischen Städten in den letzten Jahren der Fall war – in den Niederlanden liegt das jedoch schon 50 Jahre zurück.
Grün und smart
Und heute? Pendeln an Spitzentagen bis zu 125'000 Menschen mit dem Velo zur Arbeit, zur Kita, zum Einkaufen oder zum nächsten Café. Wie schafft Utrecht das? Um mit der Flut an Zweirädern zurechtzukommen, setzen die Verkehrsplanerinnen auf unterschiedliche Ansätze. Da der Rückstau an manchen Kreuzungen so lang war, dass es nicht alle Velofahrenden durch die Grünphase schafften, installierte die Stadt smarte Ampeln, die nach Bedarf die Länge der Phasen anpassen. Schliesslich soll das Velo den Titel als schnellstes Verkehrsmittel beibehalten.
Ausserdem gilt an niederländischen Kreuzungen das Prinzip «Rundum Grün»: Auf allen vier Seiten bekommen die Velofahrer jeweils gleichzeitig grünes Licht und wuseln wie Ameisen in alle Richtungen. Was sich komplex anhört, hat sich in der Praxis bewährt: Das Prinzip fördert die gegenseitige Rücksichtnahme und die Kommunikation mittels Blicken und Gesten – statt gegeneinander wird miteinander gefahren.
Parkhaus der Superlative
Doch da das Velo ebenso wie das Auto mehr Steh- als Fahrzeug ist, braucht es in der Stadt auch genügend Abstellplätze. Deshalb hat Utrecht direkt am Hauptbahnhof das grösste Velo-Parkhaus der Welt bauen lassen. Der 30 Millionen Euro teure Komplex bietet seit 2019 auf drei Ebenen Platz für bis zu 12'500 Velos! Zum Vergleich: Die grösste Schweizer Velostation an der Zürcher Europaallee kann maximal 1600 Zweiräder beherbergen. Statt kahl und düster wie bei anderen Zweckbauten empfängt das futuristisch gestaltete Parkhaus der Superlative Velofahrerinnen mit hell-freundlicher Atmosphäre. Lichtsignale zeigen freie Abstellplätze, welche die ersten 24 Stunden gratis genutzt werden können. Danach kostet der Platz im rund um die Uhr überwachten Gebäude 1,25 Euro pro Tag.
Autos sind in Utrecht kaum unterwegs, obwohl sie in nur wenigen Strassen ganz offiziell verboten sind. Auch das hängt mit den Abstellmöglichkeiten zusammen: Seit Ende der 1970er-Jahre wurden Parkplätze im Zentrum weitgehend abgeschafft und in die städtischen Parkhäuser verlegt. Für viele Autofahrer scheint sich der Umweg nicht zu lohnen, weshalb sie lieber gleich auf andere Verkehrsmittel umsteigen. Auch bei der Parkplatz-Thematik ist Utrecht den Schweizer Städten 50 Jahre voraus, wo vielerorts ein erbitterter Kampf zwischen Autolobby und Verkehrsplanerinnen geführt wird. In Zürich beispielsweise sind bis heute erst vier der bis 2031 geplanten 130 Kilometer an sogenannten Velovorzugsrouten umgesetzt – oft verzögern Rekurse und Einsprachen den schnelleren Ausbau.
Schneckentempo statt Schnellstrassen
Damit der Veloverkehr aber nicht an der Stadtgrenze versiegt, haben Utrecht und andere niederländische Städte viel Geld in sogenannte Radschnellwege investiert. Diese verbinden nicht nur die Aussenbezirke mit dem Zentrum, damit Pendlerinnen auch ohne Auto zur Uni, zur Arbeit oder zum Bahnhof kommen, sondern auch die grossen Städte miteinander. So können Velofahrer auf den typisch rot schimmernden Radwegen von Utrecht auch sicher und bequem nach Amsterdam fahren. In der Schweiz gibt es zwar ebenfalls konkrete Pläne für solche Veloschnellstrassen: Die Glattal-Oberland-Route soll sich einst über 20 Kilometer von Zürich-Oerlikon nach Wetzikon ZH erstrecken, im Limmattal ist ein zwölf Kilometer langer Streckenabschnitt von Zürich über Schlieren ZH nach Dietikon ZH geplant. Bis diese Projekte realisiert sind, dürfte es allerdings noch viele Jahre dauern.
Mit Blick auf die Niederlande gibt es in der Schweiz also noch viel zu tun, um das Velofahren für eine breite Masse attraktiver zu gestalten. Nur eines könnten sich die Niederländer von den Schweizern abschauen: Während hierzulande eine Mehrheit der Velofahrenden einen Helm trägt, sind die meisten Menschen dort ohne Kopfschutz unterwegs – nicht gerade vorbildlich.