Die Zentralen der Autohersteller arbeiten seit Monaten im Krisenmodus. Kaum schimmerte ein Licht am Ende des Corona-Tunnels, rollte die Branche nahtlos in die nächste Krise: Der Krieg in der Ukraine legt die Produktion der Kabelbäume weitgehend still. Die Pandemie, der Halbleitermangel und jetzt der Krieg – alles zusammen führt zu einem massiven Rückgang der Produktion. Liefen 2019 noch 90,3 Millionen Autos vom Band, gingen die Zahlen 2021 um acht Prozent auf 83 Millionen zurück. «Dieser Trend wird im Jahr 2022 weitergehen und sich gegebenenfalls noch verschärfen», beschreibt Experte Ralf Walker von der Berylls Group die heikle Situation.
Aber warum sorgen Kabel nun für die Produktionsausfälle? Halbleitermangel leuchtet als Bremsklotz noch ein. Chips werden in Millionen elektronischer Geräte benötigt – da ist verständlich, dass es in Mangelzeiten nicht für alle reicht. Aber Kabel? Die scheinen doch ein recht banales Autoteil zu sein.
Kilometerweise Kabel
Banal sind sie eben nicht. Früher war die Plattform entscheidend für die Eigenschaften eines Autos – also buchstäblich das Blech. Heute sind es die Kabelbäume. Sie sind das Nervensystem jedes Autos und verknüpfen die bis zu 100 Mini-Computer, die als Steuergeräte alle Funktionen im Griff haben – von Lenkung über ABS und das elektronische Stabilitätsprogramm bis zu Radio, Smartphone-Kopplung und den Fensterhebern. Und zwar nicht nur bei Elektroautos, sondern schon bei jedem Modell mit Verbrenner.
Je nach Modell und Ausstattung stecken einige Kilometer und 50 bis 60 Kilo Kabel im Kabelbaum. Ohne lässt sich ein Auto nicht produzieren. Chips für die elektrische Heckklappe lassen sich nachrüsten, der Kabelbaum nicht. Weil sie entsprechend dem Automodell konfektioniert werden, ist vielfach Handarbeit angesagt. Ausserdem gibt es keine Standardisierung zwischen den Herstellern, automatisierte Produktion für alle funktioniert nicht.
Tiefe Löhne, nahe Werke
Hier kommt die Ukraine ins Spiel: Wegen ihren vergleichsweise geringen Lohnkosten und der Nähe zu den Autofabriken in Polen, Rumänien oder der Slowakei. Seit 1998 haben 22 Zulieferer dort 38 Produktionsstandorte mit 60'000 Mitarbeitenden aufgebaut – vor allem für Kabelbäume. Rund sieben Prozent des Europa-Bedarfs werden in der Ukraine gefertigt. Und alle Top Ten der dortigen Kabelbaum-Hersteller fertigen nach dem «Just-in-Time»-Prinzip: Keine Lagerung, die Kabel gehen vom Hersteller ans Fliessband. Steht im Krieg die Fertigung in der Ukraine, stehen alle Bänder still.
Um die Produktion am Laufen zu halten, praktizieren Volkswagen, Mercedes und Co. Kabelbaum-Darwinismus: Jene Autos, die am meisten Geld in die Kasse spülen, werden priorisiert gebaut. «Die Kabelbäume für die Hochvoltspeicher und BEV-Fahrzeuge im Hochpreis-Segment sind höher priorisiert als ein Kabelbaum für Mittelklasse-Verbrenner», erklärt Walker.
Künftig lokaler denken
Auch wenn der Ausfall der ukrainischen Kabelbäume hauptsächlich die europäischen Modelle trifft, zeigt er die Anfälligkeit der Lieferketten. Statt global einzukaufen, rückt das Prinzip «lokal für lokal» wieder vor. Wenn in China erneut eine Region für Wochen in den Lockdown geht, könnten zwar die Autowerke in der Umgebung still stehen, aber nicht jene auf anderen Kontinenten. Mercedes will mit Zulieferern konkretere Vereinbarungen zu Lieferabnahmen treffen. Ausserdem setzt man auf den Aufbau von Pufferlagern in der Lieferkette und auf mehrere Bezugsquellen, damit die Auswirkungen beim Ausfall eines Standortes nicht so gravierend sind.
VW federt per Krisenstab ab. Kurzfristig montieren Standorte in Osteuropa, Nordafrika und Übersee. «Wir müssen langfristig Versorgungsabsicherung gewährleisten», sagt Skoda-Beschaffungs-Vorstand Karsten Schnake. Das heisst: Die Kabelbaumfertigung wird in 14 Ländern und an 23 Standorten kopiert, ohne die Ukraine aufzugeben. Eines dieser Werke befindet sich in Rabat (Marokko), wo der Zulieferer Kromberg und Schubert die Fertigung ausgebaut hat und so die Ausfälle im ukrainischen Zhytomyr kompensiert.
Improvisierte Produktion
Der ukrainische Zulieferer PEKM hat zum Beispiel im Skoda-Hauptwerk im tschechischen Malda Boleslav eine Halle gemietet und fertigt dort jetzt mit aus der Ukraine geflüchteten Mitarbeitenden immerhin 900 Kabelbäume am Tag statt vorher 40'000. Künftig soll die Produktion ausgebaut werden.
Interessant: BMW zum Beispiel sieht keinen grossen Handlungsbedarf. «Wir beziehen wichtige Komponenten wie Kabelbäume schon immer aus mehreren Ländern, zum Teil auch aus der Ukraine. In der Folge waren nur wenige Werke des Produktionsnetzwerks betroffen», heisst es aus Bayern.