Wenns ums Auto geht, ist Grossbritannien zusammen mit der Schweiz in Europa ganz vorne dabei. Wie die Autokäufer bei uns stehen Briten auf Power und sportliche Optik. Der VW Golf? Geht dort am besten als «hot hatch», also in den GTI- und R-Sportversionen.
Aber gerade vergeht dem Land die Lust am Verbrennen von Benzin und Diesel. Die Lagertanks für Treibstoff sind zwar voll. Aber wegen der neuen Visa-Bestimmungen infolge des Brexits, also des Austritts des Königreichs aus der Europäischen Union (EU), fehlen Chauffeure, um die Tankstellen zu beliefern. Denn diese Jobs waren meist in der Hand osteuropäischer Fahrer, für die der Aufenthalt in Great Britain nun unattraktiv ist.
Laden statt Tanken?
Deshalb: Lange Schlangen, Hamsterkäufe, Streitereien an den Zapfsäulen. Premierminister Boris Johnson will nun zwar flugs wieder Fahrer in Osteuropa anwerben, aber glaubt selbst nicht an eine schnelle Lösung: Das Sprit-Desaster könnte noch über Weihnachten hinaus anhalten. Und was tun die Autofahrer? Sie schwenken um.
Kaum wurde der Treibstoff knapp, registrierten britische Neuwagen-Vergleichsportale massiv mehr Anfragen nach Elektroautos – ein Plus zwischen 50 und 70 Prozent. Die Interessenten haben zwar noch keinen Neuwagen gekauft – aber das könnte ganz schnell gehen. Denn neben den Versorgungsschwierigkeiten macht auch die Chipkrise bei den Elektroauto-Verkäufen Dampf.
Stromer sind margenstärker als Verbrenner und helfen, CO2-Ziele zu schaffen. Daher konzentriert sich die Autoindustrie derzeit auf die Elektromodelle. Wenn Halbleiter-Chips vorhanden sind, werden sie prioritär in Modelle mit Elektroantrieb eingebaut. Diese haben daher kürzere Lieferfristen als Verbrenner, sind für die Käufer schneller verfügbar und so attraktiver. Und sie machen unabhängig von der Spritversorgung.
E-Mobilität als Wirtschaftsprogramm
Ausserdem befeuert die Politik von Boris Johnson den Stromer-Absatz: Klimaschutz? Na gut, aber vor allem will der Premier sein Land mit Zukunftstechnologien wie der Elektromobilität über eine Ergrünung der Industrie wirtschaftlich wettbewerbsfähiger machen. Anfang 2020 wurde noch ein Verbrenner-Aus für 2035 diskutiert. Inzwischen hat Johnson den Zeitpunkt für einen Stopp der Verbrenner-Verkäufe auf 2030 vorgezogen, um der Industrie Druck bei der Transformation zu machen. Zum Programm gehört auch ein staatlicher Zuschuss für den E-Auto-Kauf von rund 3160 Franken, wenn das Auto weniger als 44'000 Franken kostet.
Im September wurden rund 33'000 Stromer verkauft, ein Plus von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dem gegenüber waren es 215'000 Verbrenner – wegen der Chipkrise so wenige wie seit 1998 nicht. Bestseller wie in einigen anderen europäischen Ländern? Teslas Model 3. Experten wie Ferdinand Dudenhöffer, Chef des CAR-Center Automotive Research in Duisburg, glauben, dass in den kommenden Monaten das blosse Interesse in weiter steigende Absatzzahlen münden werde. Erst recht, wenn die Schlangen an den Tankstellen bleiben.