Das Ziel ist hochgesteckt: Null Verkehrstote bis 2050. So wollen es die EU-Verkehrsminister. Bereits bis 2030 soll die Zahl gegenüber heute um 50 Prozent gesenkt werden. Es ist ein wünschenswertes Ziel, das steht ausser Frage. Denn bis jetzt lassen auch in Europa noch viel zu viele Menschen auf der Strasse ihr Leben. Mehr als 20'000 waren es im vergangenen Jahr. Um die Zahl der Toten und Verletzten drastisch zu reduzieren, setzt die EU auch auf moderne Technik: etwa den intelligenten Geschwindigkeitsassistenten, kurz ISA (engl.: Intelligent Speed Assistance).
Riesige Schwachstellen
Der Tempolimit-Warner muss bereits seit Juli 2022 in allen neu aufgelegten Autos an Bord sein – ab dem 7. Juli 2024 muss jeder Neuwagen über die Technik verfügen. ISA warnt die Fahrerin zum einen optisch durch ein blinkendes Tempolimit-Symbol im Display, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten wird. Zum anderen meldet sich das System auch akustisch – mit einem je nach Marke und Modell teils penetranten Piepton.
Das ISA-System hat jedoch eine riesige Schwachstelle. Es baut auf einer Technologie auf, die durchgängig fehlerbehaftet ist: der Verkehrszeichenerkennung. Sie basiert auf den heute obligaten Kamerasystemen der Autos, greift aber auch auf die im Navi hinterlegten Daten zurück. Es kann deshalb vorkommen, dass das Auto für die gleiche Stelle zwei verschiedene Tempolimits anzeigt. Dies kann an nicht aktuellen Daten liegen, aber auch an nicht korrekt aufgestellten Schildern oder Störungen in der Anzeige von digitalen Verkehrszeichen.
Fast alle Autos fallen durch
Wie unzuverlässig ISA wirklich arbeitet, untersucht das deutsche Fachblatt «Auto, Motor und Sport» (AMS) bereits seit 2021. Im Rahmen jedes Einzel- und Vergleichstests überprüft das Automagazin die Funktionsfähigkeit der Verkehrszeichenerkennung. Auf einer 40 Kilometer langen Strecke wird unter anderem untersucht, ob die Systeme auch zeit- oder wetterabhängige Sonderfunktionen oder Schilder für Nebenfahrspuren erkennen oder ob der Tempomat eine automatische Geschwindigkeitsübernahme der angezeigten Begrenzung besitzt. Insgesamt zehn Punkte können bei dem Test erreicht werden – für gravierende Fehlfunktionen können auch Punkte abgezogen werden. Die Ergebnisse, die AMS jetzt präsentiert, sind erschreckend (Artikel kostenpflichtig).
Von den 146 im letzten Jahr untersuchten Autos erhielten nur knapp 18 Prozent überhaupt Punkte! Die maximal erreichte Punktzahl auf der Teststrecke betrug vier! In den meisten Fällen hätten die Fahrzeuge laut AMS gewonnene Punkte über Fehlfunktionen der Tempoangaben wieder verloren. Dabei spielt es nicht mal eine Rolle, ob es sich um einen günstigen Kleinwagen oder ein teures Premiumprodukt handelt – die Schwäche von ISA würde sich über alle Hersteller und Segmente erstrecken. Teils würden sogar unterschiedliche Testwagen von derselben Baureihe unterschiedliche Ergebnisse produzieren – trotz gleicher Technik. Warum dies so ist, können sich die Tester auch nicht erklären.
Gefährlich statt lebensrettend
Fest steht: Schon heute verlassen sich viele Autofahrer auf die im Display angezeigte Geschwindigkeit, auch wenn die Verantwortung letztlich weiter beim Fahrer liegt. Wenn die Verkehrszeichenerkennung aber sogar mit dem Tempomaten gekoppelt ist und die falsch erkannte Geschwindigkeit vom Fahrzeug übernommen wird, kann es zu brandgefährlichen Situationen kommen. Man denke etwa an Tempo-40-Schilder von Raststätten an Autobahnen, an denen die Autos in der Schweiz normalerweise mit 120 km/h vorbeipreschen.
Noch kann ISA problemlos übersteuert oder komplett deaktiviert werden – je nach Marke mal einfacher mittels Tastendruck, mal komplizierter über Untermenüs im Infotainmentsystem. Nach jedem Neustart des Autos muss ISA aber wieder aktiv sein – so will es die EU. Die EU behält sich ausserdem weitere Schritte vor: So könnte ISA in einer nächsten Stufe die Gasannahme bei Übertreten des Tempolimits erschweren oder gar ganz unterbinden, indem die Leistung des Antriebs gedrosselt wird. Laut AMS wäre das fatal: «Denn eine höhere Genauigkeit der Verkehrszeichenerkennung ist derzeit unwahrscheinlich.» Schon heute würde ISA eher ein Sicherheitsrisiko als ein potenziell lebensrettendes System darstellen.