Wut auf der Strasse, Wut im Rat – Deutschland so gespalten wie lange nicht mehr
Heute kommts zum ultimativen Showdown im Bundestag

Unsichtbare «Brandmauern» durchziehen die 84-Millionen-Nation Deutschland. Die politische Debatte ist so hitzig wie nur selten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und Lösungen für die drängendsten Probleme sind weit und breit keine in Sicht. Ein Augenschein in Berlin.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Aktualisiert: vor 1 Minute
CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ist in Berlins Strassen zur Hassfigur verkommen.
Foto: Samuel Schumacher

Auf einen Blick

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Deutschland war einmal ein geteiltes Land. Heute ist es eine im Kern gespaltene Nation, deren politische Lager sich gegenseitig in den stramm gekämmten bis wild zerzausten (und auf Führungsebene der Volksparteien fast gänzlich fehlenden) Haaren liegen.

Streitpunkt Nummer eins: die «Brandmauern», der unsichtbare Schutzwall, der den demokratischen Teil der Parteien von der vermeintlich undemokratischen Alternative für Deutschland (AfD) fernhalten soll.

Anders als die Berliner Mauer, die die Hauptstadt zwischen 1961 und 1989 durchtrennte und die dank Selbstschussanlagen und anderer Vorkehrungen als kaum überwindbares Hindernis galt, scheint die «Brandmauer», ausgerufen von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (69), bereits vor dem Wahltag am 23. Februar mächtig zu bröckeln.

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CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ist in Berlins Strassen zur Hassfigur verkommen.
Foto: Samuel Schumacher

Obwohl sämtliche Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschliessen, kam es vorvergangene Woche im Bundestag erstmals zur Situation, dass ein Vorschlag (Friedrich Merz’ 5-Punkte-Plan zur Migration) nur dank den Stimmen der AfD angenommen worden war.

Provokante Slogans und 80'000 Protestierende

«Skandal!», schrie nicht nur Kanzler Olaf Scholz (66). Das schrien am vorletzten Sonntag alleine in Berlin 80'000 Demonstrierende, die es nicht fassen können, dass Merz bereit scheint, politische Mehrheiten mit der «Alternative» zu schmieden, falls es seinen Anliegen dient.

Aus Schweizer Sicht wirkt die Brandmauer-Debatte surreal. Politische Opposition ist für die Eidgenossenschaft ein Fremdwort. Alle grossen Parteien sind fester Bestandteil unserer Konkordanz-Regierung. Brandmauern gibts im Land der mächtigen Staudämme nicht.

Deutschland aber mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit hat einen anderen Bezug zu einer Partei, die sich mit ihrem Wahlslogan für Kanzlerkandidatin Alice Weidel (46) «Alice für Deutschland» an den alten Nazi-Spruch «Alles für Deutschland» anlehnt und nebst weitreichenden Asyl- und Energiereformen auch eine Umdeutung der deutschen Geschichte fordert.

Beim gesitteten Kanzlerduell zwischen Scholz und Merz am Sonntagabend nahm das «Brandmauer»-Thema laut der «Zeit» geschlagene 7 Minuten und 52 Sekunden Redezeit in Anspruch. Nur über die Asylpolitik (12 Minuten und 46 Sekunden) stritten sich die beiden Herren noch länger.

22 bewilligte Berlin-Demos an einem einzigen Tag

In Berlin wird Merz auf omnipräsenten Plakaten als monströses «Ding aus der Mittelschicht» verunglimpft. «Merz Attacks!», warnt die linke Gruppierung «Die Partei» in Anlehnung auf den 90er-Jahre-Film «Mars Attacks!» und schimpft: «Der nächste Kanzler ist ein Arschloch». Das sind unfeine Töne.

Doch Wahlkampf ist nicht nur auf den Plakatwänden. Alleine am Montag fanden in der deutschen Bundeshauptstadt 22 bewilligte Demos statt. Das ist selbst für das politisch hypersensible Berlin aussergewöhnlich. Das TV-Duell am Sonntagabend auf ARD/ZDF verfolgten 12,3 Millionen Zuschauer, deutlich mehr als das Kanzler-Triell vor vier Jahren.

Am Dienstag dann kommt es im von Polizei und Gittern umstellten Bundestag zum letzten Showdown der alten Garde, bevor am 23. Februar die Karten in Deutschland neu gemischt werden. Dass sie einander den schwarzen Peter zuschieben können, das haben Deutschlands Parteien zur Genüge bewiesen. Ob sie mit ihren Trümpfen etwas zur Befriedigung des zürnenden Volkes beisteuern können, diese Antwort bleiben sie den 84 Millionen Menschen im Land weiter schuldig.

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