Wladimir Medinski (51) überraschte diese Woche nicht nur den Westen, sondern auch die Bevölkerung im eigenen Land. Der Leiter der russischen Delegation sprach nach dem Treffen mit ukrainischen Vertretern in Istanbul von «gehaltvollen Verhandlungen» und von ukrainischen Vorschlägen, «die wir für einen konstruktiven Schritt zu einem Kompromiss halten».
Während in der Ukraine weiter russische Bomben fielen, sagte Medinski, auch Russland mache «zwei Schritte hin zur Deeskalation». Damit meinte er die Ankündigung, die russischen Truppen würden ihre Kampfhandlungen im Norden der Ukraine reduzieren.
Die russische Öffentlichkeit war verblüfft, wie der «Spiegel» schreibt. Warum kündigte Medinski ein Ende des Vormarsches auf Kiew an, während das Staatsfernsehen nach wie vor Kriegsstimmung verbreitet? Selbst kremlnahe Kreise attackierten den eigenen Delegationsleiter scharf.
Tschetschenen-Chef Ramsan Kadyrow (45), bekannt als «Putins Bluthund», schoss in einer Videobotschaft gegen Medinski. «Wir werden keine Zugeständnisse machen. Medinski hat einen Fehler gemacht, die Formulierung war falsch.» Auch der bekannte Putin-Propagandist Wladimir Solowjow (58) ging auf Putins Verhandlungs-Chef los. Er bezeichnete dessen Aussagen als «irrsinnig» und warf ihm vor, das Volk und die Soldaten in die Irre zu führen und zu demoralisieren.
Medinski prägte ideologisches Geschichtsbild
Die Angriffe auf Medinski liessen den Eindruck entstehen, dieser habe gegen Putins Willen gehandelt. Dabei hatte der Kreml-Machthaber seinen Berater selber als Delegationsleiter eingesetzt – eine Entscheidung, die überraschte. «Der Mann hat weder Erfahrung in internationalen Verhandlungen noch die nötige Nähe zu Putin, um schwierige Entscheidungen treffen zu können», schreibt der «Spiegel».
Dafür hat Medinski andere Qualitäten. Als Autor historischer Bücher und als ehemaliger Kulturminister war er in den vergangenen Jahren massgeblich daran beteiligt, Russlands offizielle Geschichtsschreibung umzudeuten. Der ultrakonservative Ideologe zeichnet in seinen Bestsellern ein patriotisches, revisionistisches Bild der Vergangenheit, das wissenschaftlichen Ansprüchen in keiner Weise standhält, dafür umso mehr auf Putins Linie ist.
Gemeinsam ist den beiden, dass sie dem ukrainischen Staat die historische Legitimation absprechen. Nach Putins Ansicht ist die Ukraine ein künstliches Gebilde, das seine Existenz nur dem Revolutionär Wladimir Iljitsch LeninLenin (1870–1924) verdanke. Medinski schrieb kurz vor Kriegsbeginn: «Der zeitgenössische Staat, den wir gewöhnlich Ukraine nennen, ist ein historisches Phantom.»
«Putin wollte nie Verhandlungen führen»
Warum aber setzt Putin bei den Verhandlungen auf Medinski? Für den Oppositionspolitiker Leonid Gosman (71) zeigt seine Ernennung vor allem eines: dass Putin nie vorhatte, Verhandlungen zu führen. «Seine Ernennung zum Verhandlungsführer ist eine Verhöhnung der Ukrainer», sagte Gosman zur Deutschen Welle. «Worüber sollen die mit ihm reden? Über Lenin?».
Auch der Verhandlungsexperte Matthias Schranner (58) argumentiert in die gleiche Richtung. Er hält das vordergründig kooperative Verhalten der russischen Delegation für ein Täuschungsmanöver. «Es ist dazu da, um der Welt zu zeigen: ‹Wir sitzen doch am Verhandlungstisch, wir wären bereit für eine Lösung›», sagt er bei Blick TV. Die personelle Zusammensetzung der Delegation um Medinski deute darauf hin, dass Putin kein echtes Interesse an den Verhandlungen habe. «Man kann das sehen als Zeichen der Provokation. Man schickt jemanden hin, der eh nichts zu sagen hat.»
Gleichzeitig sei es für die Ukraine keine Option, deswegen auf Verhandlungen zu verzichten. Sonst würde man sich dem Vorwurf aussetzen, nicht kooperationsbereit zu sein. Allerdings habe sich der Westen gegenüber Russland lange zu blauäugig verhalten. Schranner zu Blick: «Es war eine Naivität des Westens – schon vor dem Kriegsbeginn –, zu glauben, dass Russland eine echte Lösung haben möchte.» (sst)