«Wir verstecken uns vor russischen Patrouillen»
So leben Bewohner in den annektierten Ukraine-Gebieten wirklich

Seit Russland mehrere ukrainische Gebiete annektierte, hat sich das Leben dort stark verändert. Wie es sich in den besetzten Regionen lebt, erzählen einige Bewohner. Nicht jeder ist gegen die Besatzung.
Publiziert: 01.11.2023 um 14:53 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2023 um 15:15 Uhr
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Seit der russischen Invasion in der Ukraine herrscht ein blutiger Krieg. Die von Russland annektierten Gebiete werden hart umkämpft. Im Bild: ukrainische Soldaten in Bachmut.
Foto: Getty Images

Die ukrainischen Regionen Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk werden vom russischen Militär aktuell nicht vollständig kontrolliert. Dennoch annektierte Russland die Gebiete Ende September 2022. Präsident Wladimir Putin (71) behauptete: «Dies ist unser historisches Land und unser einheimisches Volk.» Umgerechnet sollen rund 19 Milliarden Franken in die Regionen fliessen – um sie auf «gesamtrussisches Niveau» zu bringen.

Gegenüber dem «Spiegel» erzählen Bewohner der annektierten Regionen nun, wie sich ihr Leben seit der russischen Besatzung verändert hat. Eine Frau aus der südukrainischen Stadt Enerhodar sagt, dass die meisten Menschen geflohen seien. Zurück blieben insbesondere ältere Leute, die gezwungen seien, den russischen Pass anzunehmen. Ohne diesen bekämen sie weder Rente noch Sozialleistungen. Ebenso gäbe es ohne Pass auch keine offiziellen Arbeitsplätze mehr.

Und es kommt noch heftiger. «Wenn du keinen russischen Pass hast, dann wird auch kein Krankenwagen kommen, wenn du auf der Strasse liegst und stirbst», sagt die Ukrainerin zur Zeitung. Kreml-Verwalter Jewgenij Balizkij kündigte im Staatsfernsehen an, dass in der Region Saporischschja ab 2024 nur noch russische Staatsangehörige medizinisch behandelt werden.

«Es ist die totale Erstickung»

Die Familie aus Enerhodar konnte nur ohne Pass überleben, da die Ukraine ihnen weiterhin ein Gehalt überwies. Dies konnten sie über Bekannte in russische Rubel umtauschen. «Das Leben unterhalb des Radars der Behörden ist möglich. Aber es ist die totale Erstickung. Wenn wir in der Stadt eine Patrouille kommen sahen, bogen wir in den nächsten Innenhof ab und versteckten uns», erinnert sich die Ukrainerin.

Eine Flucht schien der einzige Ausweg. Da ihr Mann sich geweigert hatte, einen Vertrag mit einem russischen Atomkraftwerk-Betreiber zu unterschreiben, wurde er auf eine rote Liste gesetzt. Rund eineinhalb Jahre lang hielt das die Familie von einem Fluchtversuch ab. «Wenn seine Kollegen von der Liste versuchten auszureisen, wurden sie an der Grenze aufgehalten», sagt die Ukrainerin.

Im Sommer behauptete ein Bekannter der Familie dann, dass es an den Grenzen keine Listen mehr gäbe. Also ging es am nächsten Tag los. An Kontrollposten erzählte die Familie den russischen Soldaten, sie würden ans Meer fahren. «Wir hatten nur sommerliche Kleidung eingepackt und keinen Hausrat, damit es so aussah, als machten wir Ferien», meint die Ukrainerin. So schafften sie an die russische Grenze.

Dort behauptete die Familie, sie würden Bekannte in Deutschland besuchen und bald zurückkehren. «Wir versprachen sogar, uns nach der Rückkehr sofort russische Pässe ausstellen zu lassen», erinnert sich die Ukrainerin. Und so liess man sie ausreisen. Über Lettland, Litauen und Polen ging es zurück in die Ukraine. Heute lebt die Familie in Kiew.

«Man hat das Gefühl, wir leben wie in Russland»

Doch nicht jeder will fliehen. Ein ukrainischer Aktivist zog freiwillig in die besetzte Stadt Melitopol, um dort seine Widerstandsbewegung Yellow Ribbon aufrechtzuerhalten. Diese habe inzwischen in den Untergrund ziehen müssen, sagt der Anfang 20-Jährige zur Zeitung. Russische Besatzer würden hart gegen Aktivisten vorgehen. Medienberichten zufolge sollen Ukrainer in Melitopol aufgrund von anti-russischen Haltungen sogar entführt oder misshandelt worden sein.

Doch der Widerstand stirbt nicht. Laut dem Aktivisten zählt die Bewegung rund 10'000 Mitglieder. «Unsere Aufgabe besteht darin, die Russen psychologisch zu beeinflussen. Wir erinnern sie täglich daran, dass dies nicht ihr Land ist, dass sie sich hier nicht sicher fühlen können», sagt er.

Eine ukrainische Rentnerin aus der Kleinstadt Antrazit nahe Luhansk sieht das anders. Zur Zeitung sagt sie, der Anschluss an Russland sei «ein Segen». Schulen, Strassen, Spitäler und Heizsysteme seien von den Russen instand gebracht wurden. «Man hat das Gefühl, wir leben wie in Russland, es ist alles so schön jetzt», so die Rentnerin. Dass die von Russland ausgezahlte Pauschalrente kleiner ausfällt und umgerechnet nur knapp 100 Euro im Monat beträgt, nimmt sie klaglos in Kauf. (mrs)

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