Wir lockern, sie ziehen an
Warum reagiert die Schweiz so anders als Deutschland?

Die Schweiz öffnet sich langsam wieder, Deutschland bereitet sich auf einen neuen Lockdown vor. Zwei Kenner beider Länder erklären, warum die beiden Regierungen in völlig unterschiedliche Richtungen ziehen.
Publiziert: 20.04.2021 um 12:16 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2021 um 14:45 Uhr
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Die Schweiz öffnet sich: Ab 19. April darf man wieder Fitnesscenter besuchen.
Foto: Keystone
Guido Felder

Die Corona-Zahlen der Schweiz und Deutschland entwickeln sich praktisch gleich. Aber in der Bewältigung der Pandemie gehen die beiden Länder völlig unterschiedliche Wege. Die Schweiz lockert, Deutschland zieht die Schraube wieder massiv an.

Warum ticken die Schweizer und Deutschen in dieser Hinsicht so komplett verschieden? Der Hauptgrund liegt laut zwei bekannten Kennern beider Länder daran, dass die Deutschen viel mehr der Wissenschaft vertrauen.

So spricht der Politologe und schweizerisch-deutsche Doppelbürger Klaus Armingeon (66) von «starken Kräften, die in der Schweiz auf eine schnelle Lockerung» drängen. Armingeon: «Es gibt zahlreiche Akteure wie etwa die Kantone und Interessenverbände, die aufgrund ihrer institutionellen Position sehr viel Macht haben und die zum Teil nachdrücklich auf eine Öffnung setzen, auch wenn dies von Epidemiologen als sehr riskant beurteilt wird.»

Gewichtige Einzelinteressen

In der Schweiz sei die Regierung, welche die nationale Pandemiestrategie definieren und durchsetzen müsse, «sehr viel anfälliger für die Einflussnahme von Einzelinteressen und Parteien, die sich wenig von wissenschaftlichen Einsichten und vom wissenschaftlichen Minimalkonsens beeindrucken lassen».

Dabei verfüge die Schweiz über ein vielleicht noch besseres Wissenschaftssystem als Deutschland. Da wäre es für Armingeon naheliegend, wenn die politischen Akteure «sehr sorgfältig auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hören und ihre Ratschläge beherzigen» würden.

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«SVP hat Mühe, zu verstehen»

Armingeon formuliert es diplomatisch: «Sowohl in Deutschland, aber nach meinem Bauchgefühl sogar noch stärker in der Schweiz, sind unter den politischen Akteuren die Unkenntnisse über das Funktionieren von Wissenschaft und der mangelnde Respekt vor wissenschaftlicher Vorgehensweise durchaus verbreitet – obwohl wir in der Schweiz eines der besten Wissenschaftssysteme haben.»

Vor allem eine Partei macht Armingeon für den Schweizer Sonderweg verantwortlich: «Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass die SVP besondere Schwierigkeiten hat zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert.»

«Taskforce zum Schweigen bringen»

Für den aus Olten stammenden, 2004 von der Schweiz weggezogenen «Spiegel»-Auslandchef Mathieu von Rohr (43) schneiden bei der Bewältigung der Pandemie beide föderalistischen Systeme nicht gut ab. «In der Schweiz hätte der Bundesrat grosse Befugnisse, getraut sich aber nicht zu entscheiden. In Deutschland möchte die Kanzlerin entscheiden, wegen fehlender Kompetenzen kommt es aber zu einer Lähmung.»

Auch er stellt fest: «Die deutsche Regierung vertraut mehr auf die Wissenschaft, Schweizer Mitte- und Rechts-Politiker hingegen hören lieber auf die Wirtschaft und einige wollen gar die Taskforce zum Schweigen bringen.» Er warnt vor dem in der Schweiz weit verbreiteten Gefühl der Unverwundbarkeit. Von Rohr: «Man vertraut darauf, dass uns ja seit langem nichts passiert ist und alles gut kommt. Und das hat im Herbst ja schon einmal nicht funktioniert.»

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