Der kommende Montag wird für die Ärmsten der Armen zum Schicksalstag. Es ist der Tag, an dem der Getreidedeal, den Russland und die Ukraine vor einem Jahr mit der Türkei und den Vereinten Nationen geschlossen haben, ausläuft. Zurzeit macht der russische Präsident Wladimir Putin (70) keine Anstalten, ihn zu verlängern.
Das Abkommen hat zum Ziel, Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer und durch den Bosporus auszuführen, ohne dass die Transportschiffe angegriffen werden. Dank des Deals konnten laut Unicef 30 Millionen Tonnen Güter exportiert und vor dem Verrotten bewahrt werden. Rund 60 Prozent gingen an Entwicklungsländer. Vermittelt hatte den Deal der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (69).
Hungersnöte gestoppt
Der Getreidedeal bedeutet für die ärmsten Länder mehr als nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Saskia Kobelt (33), Emergency Programs Manager für Unicef Schweiz und Liechtenstein, sagt gegenüber Blick: «Das Abkommen hat sich sehr positiv auf die weltweite Ernährungssicherheit ausgewirkt und hat dazu geführt, dass man das Schlimmste – nämlich den Ausbruch von Hungersnöten im globalen Süden – etwas ausbremsen konnte.»
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Der Deal habe auch einen positiven Einfluss auf die weltweiten Lebensmittelpreise, die nach dem Rekordhoch im März 2022 zehn Monate lang gesunken seien. Allerdings hätten Preise und die Verfügbarkeit von Getreide und Düngemittel noch nicht das Vorkriegsniveau erreicht.
Destabilisierung von Krisengebieten
Saskia Kobelt warnt: «Bei einem Abbruch der Initiative droht ganz klar, dass sich in zahlreichen Ländern des globalen Südens die humanitäre Lage weiter – und im schlimmsten Falle wie ein Lauffeuer – weiter zuspitzen wird.» In einigen Ländern rechne Unicef sogar mit Hungersnöten. Betroffen seien vor allem Somalia, Afghanistan, Niger, Syrien, Mali, Haiti, Tschad, Sierra Leone, Burkina Faso, Guinea, Jemen und Südsudan.
Nicht zu vergessen sei, dass eine Nahrungsmittelunsicherheit für Regionen, die bereits unter Konflikten, Wirtschaftskrisen und Dürre leiden, wie Öl ins Feuer wirke. Bei einem Abbruch der Initiative müsste man folglich nicht nur mit einem dramatischen Anstieg der Hungerkrise weltweit rechnen, sondern auch mit einer weiteren Destabilisierung von verwundbaren Regionen im globalen Süden.
Saskia Kobelt: «Millionen Erwachsene und Kinder sind zum Spielball eines schrecklichen Kalküls geworden.»
Erdogan in der Schlüsselrolle
Der Kreml droht mit dem Ausstieg aus dem Vertrag, weil für ihn die Bedingungen für eine Fortsetzung des Deals nicht erfüllt sind. Eine der Bedingungen ist der Abbau von Sanktionen, die Russlands Ausfuhren von Getreide und Düngemittel verhindern. Russland wirft der Ukraine zudem vor, eine Ammoniak-Pipeline, die wichtig für die Getreidelieferung im Hafen von Odessa ist, sabotiert zu haben.
Die Schlüsselrolle bei der Verlängerung des Deals nimmt wieder Erdogan ein, der bisher einen relativ guten Kontakt zu Putin pflegte. Seit dem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenksi (45) am vergangenen Wochenende in Istanbul herrscht aber zwischen Erdogan und Putin dicke Luft, weil der türkische Präsident fünf von den Russen gefangen genommene Asowstal-Kämpfer frei liess und sich hinter eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine stellt.
Kurz nach dem Besuch griffen die russischen Streitkräfte mit Drohnen das Getreideterminal in Odessa an. Das Institute for the Study of War (ISW) schliesst nicht aus, dass der Angriff eine Wutreaktion des Kremls auf Erdogans Geschenk an Selenski war.
«Putin wird einlenken»
Wie es ohne Deal weiterginge, ist nicht klar. Möglicherweise würden die Russen auslaufende Getreideschiffe blockieren oder gar beschiessen.
Um Putin zur Verlängerung des Deals zu bewegen, hat sich am Mittwoch auch UN-Generalsekretär António Guterres (74) eingeschaltet. In einem Brief unterbreitete er Putin einen Vorschlag. So sollen Hürden für Finanztransaktionen über die Russische Landwirtschaftsbank beseitigt und gleichzeitig der weitere Fluss ukrainischen Getreides durch das Schwarze Meer ermöglicht werden. Guterres bezeichnet das Abkommen als «Leuchtfeuer der Hoffnung».
Laut Ulrich Schmid (57), Russland-Experte an der Uni St. Gallen, will Putin mit seiner Drohung auch zeigen, dass die Getreideausfuhr aus der Ukraine vom russischen Goodwill abhänge und die Ukraine nur über eine eingeschränkte Souveränität verfüge. Schmid hält es für wahrscheinlich, dass Putin in letzter Sekunde einlenken werde. Schmid: «Er kann es sich nicht leisten, seine ohnehin schon bröckelnde Unterstützung in den afrikanischen Exportdestinationen aufs Spiel zu setzen.»