Es sind herzzerreissende Szenen. Kinder laufen ihren Vätern in die Arme. Familien sind wiedervereint, weinen Tränen der Freude, andere bangen noch um ihre Lieben. Über sieben Wochen lang waren die 69 befreiten Frauen und Kinder in der Gefangenschaft der Hamas. Jetzt wurden sie gegen 117 palästinensische Gefangene ausgetauscht.
Auch aus Gaza kommen Bilder, die berühren. Menschen kehren in ihre zerbombten Häuser zurück, suchen nach Habseligkeiten. Es gibt wieder öffentliche Märkte, weil Hunderte von LKW Hilfsmittel über die ägyptische Grenze fahren konnten. Ein geschundenes Volk übt den Alltag zwischen Trümmern.
Vier Tage dauerte die von den USA, Katar und Ägypten vermittelte Feuerpause. Jetzt wird sie verlängert, melden Vermittler aus Katar. Die Hamas und Israel haben sich geeinigt auf zwei weitere Tage ohne Kampf. 20 Geiseln sollen freikommen gegen 60 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen. Zudem werden weitere Hilfsgüter und Treibstoff nach Gaza geliefert. Noch vor einer Woche haderte der Premier mit einer mehrtägigen Feuerpause – er fürchtete, eine Waffenruhe würde die Hamas militärisch stärken.
Weltgemeinschaft fordert Ende des Blutvergiessens
Die Signale wecken neue Hoffnung. Folgen weitere Waffenruhen? Ist das Geiseldrama bald zu Ende? Sind die Feuerpausen gar ein Schritt zum Frieden? Schliesslich hat der Krieg neben den am 7. Oktober 1200 massakrierten Israelis auch über 14'800 Todesopfer (gemäss Angaben der Hamas) in Gaza gefordert.
Israel und die Hamas stehen unter Druck. Die Weltgemeinschaft fordert ein Ende des massenhaften Blutvergiessens – vorneweg Israels mächtiger Partner, die USA. Und auch innenpolitisch regt sich Widerstand. Noch immer wären dann 152 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die müssen ebenfalls befreit werden. Und das geht offenbar nur in Feuerpausen.
Zudem droht der ehemalige Oppositionsführer und nun Minister im Kriegskabinett, Benny Gantz (64), mit einer Regierungskrise. Grund: Der israelische Finanzminister, Bezalel Smotrich (43), will 900 Millionen Schekel (213 Millionen Franken) von den Fonds für die Förderung von Siedlungsentwicklung, Bildung und Kultur für die Kriegskasse abzwacken.
Waffenstillstand kaum in Sicht, so Experten
Die Hamas verliert zunehmend die Unterstützung im Gazastreifen und in der arabischen Welt, die weiter mit dem Westen Geschäfte machen will und daher auf einen Waffenstillstand pocht.
So offensichtlich die Argumente eines Friedens auch sind, ein dauerhafter Waffenstillstand sei nicht in Sicht, meint Justin Bassi, geschäftsführender Direktor des Australian Strategic Policy Institute. «Ein Waffenstillstand kann nicht dauerhaft sein, da die Kontrolle der Hamas über Gaza das grösste Hindernis für einen Frieden darstellt», schreibt der Nahost-Experte.
Weder Israel noch die Hamas sei zu diesem Zeitpunkt an einem Frieden interessiert, so Bassi. «Die Hamas wird nicht alle Geiseln zurückgeben, sondern sie als Verhandlungsmasse behalten, um somit den Druck der globalen Gemeinschaft auf Israel zu erhöhen», vermutet der Experte. «Sobald Israel seine militärische Operation wieder aufnimmt, wird die Hamas zweifellos behaupten, dass es die Israelis sind, die den Konflikt ohne Begründung neu beginnen.»
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«Beide Kriegsparteien haben sich verkalkuliert»
Für die Zweifel Bassis spricht Netanyahus Entschlossenheit. Nach einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden (81) am Sonntag hat der Premierminister zwar signalisiert, für eine Verlängerung der Feuerpause zu verhandeln. Danach aber würden die Kämpfe wieder aufgenommen, bis Israel sein Kriegsziel, die Hamas zu zerschlagen, mit voller Kraft verwirklicht hat.
Es sei die Pflicht Israels, nach dem Massaker vom 7. Oktober die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren, sagt der ehemalige Israel-Korrespondent der ARD und Buchautor Richard Chaim Schneider (66) im Blick-Gespräch. Daher werden die Kämpfe weitergehen, bis die Hamas besiegt ist. Denn die Terrororganisation würde nie kapitulieren. «Sie nutzt die Feuerpause, um sich militärisch neu aufzustellen und Zeit zu gewinnen», sagt der deutsche Nahost-Kenner.
Ganz anders sieht es Walter Posch (56) von der Landesverteidigungsakademie Wien. «Ein baldiger Waffenstillstand ist ein realistisches Szenario», sagt der Islamwissenschaftler gegenüber Blick. «Für beide Parteien sind militärische Lösungen sehr schwierig geworden. Der Krieg ist zu blutig und zu teuer. Sie haben sich verkalkuliert.» Israel habe die Latte zu hoch gelegt und die Hamas ihrerseits habe mit einem Flächenbrand gerechnet, der nun nicht eingetreten sei, so der Wiener Experte.