Entfacht jetzt ein Bürgerkrieg in Russland? Diese Frage stellte sich die ganze Welt, als Wagner-Chef Jewgeni Prigoschins (62) Truppen am Samstag Richtung Moskau zogen. Doch nach nur wenigen Stunden brach Prigoschin den Vormarsch wieder ab. Der Wagner-Boss soll jetzt im Exil in Belarus leben. Doch warum zog Prigoschin überhaupt Richtung Moskau? Und worauf einigte man sich?
Russland-Expertin Tatiana Stanovaya vom Berliner Think-Tank «Carnegie Russia Eurasia Center» schätzt die Ereignisse vom Wochenende ein. Auf Twitter schreibt sie: «Prigoschins Aufstand war kein Streben nach Macht oder ein Versuch, den Kreml zu überholen – es war eine Verzweiflungstat.» Denn immer wieder beklagte sich der Wagner-Chef über fehlende Munition, habe seine Truppen nicht mehr in kampffähigem Zustand gesehen.
Mit dem Vormarsch habe er also Aufmerksamkeit generieren wollen, sagt Stanovaya. Ausserdem habe er vermutlich Diskussionen über die Zukunft seiner Truppen ankurbeln wollen. Diskussionen, in denen es unter anderem um Finanzierung und Sicherheit gehen sollte. «Es war ein verzweifelter Versuch, das Unternehmen zu retten», so Stanovaya.
Putin-Rede überforderte Wagner-Chef
Doch Putin spielte nicht mit – und hielt eine Rede, in welcher er die Wagner-Söldner als Verräter bezeichnete, welche er bestrafen würde. Stanovaya glaubt, dass diese Anrede den Wagner-Chef überforderte: «Er war nicht darauf vorbereitet, die Rolle eines Revolutionärs einzunehmen.»
Auch sei Prigoschin nicht darauf vorbereitet gewesen, es tatsächlich nach Moskau zu schaffen: «Ihm blieb dann nur noch die Möglichkeit, den Kreml einzunehmen – eine Aktion, die unweigerlich zur Vernichtung von ihm und seinen Kämpfern führen würde», vermutet die Expertin.
Zudem glaubt Stanovaya, dass sich russische Eliten mit Angeboten zur Kapitulation bei Prigoschin gemeldet hätten. Das habe sein «Gefühl des Untergangs» zusätzlich verstärkt. Prigoschin wollte also nur noch eins: einen Ausweg finden.
Mehr zum Ukraine-Krieg
«Putin braucht weder Wagner noch Prigoschin»
Was genau in den Verhandlungen, bei denen wohl auch Belarus-Präsident Alexander Lukaschenko (62) involviert war, besprochen wurde, ist unklar. Prigoschin blieb aber wohl keine andere Wahl, als zu kapitulieren. «Die Situation wäre weitaus schlimmer gewesen, wenn es zu einem blutigen Chaos am Stadtrand von Moskau gekommen wäre», so Stanovaya.
Die Expertin vermutet, dass diskutiert wurde, die Wagner-Gruppe aufzulösen. Auch schreibt sie: «Möglicherweise hat Putin ihm Sicherheit unter der Bedingung versprochen, dass er stillschweigend in Weissrussland bleibt.» Dabei hätten ihm wohl seine Verdienste in Bachmut das Leben gerettet.
Überraschend ist das abrupte Ende des Vormarschs für die Russland-Expertin nicht. Für sie war Prigoschins Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt: «Ich glaube nicht, dass Prigoschin in der Lage war, Forderungen zu stellen. Putin braucht weder Wagner noch Prigoschin. Er kommt mit seinen eigenen Kräften zurecht. Davon ist er mittlerweile überzeugt.» (mrs)