Von Waffenstillstand bis Atomkrieg
Drei Szenarien, wie es in der Ukraine weitergehen könnte

Ist das der erste Schritt zum Waffenstillstand oder kommt alles noch viel schlimmer? Eine Aussage von Wolodimir Selenski lässt aufhorchen. Militärexperte Wolfgang Richter sagt, warum er Hoffnung schöpft.
Publiziert: 20.11.2024 um 16:52 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2024 um 07:16 Uhr
Angriff mit Haubitze in der Region Donezk: Die Ukrainer sind im Donbass in Bedrängnis.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

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Guido FelderAusland-Redaktor

Mitten in der Eskalation des Krieges macht Präsident Wolodimir Selenski (46) eine überraschende Aussage. Erstmals hat er Raum für eine vorübergehende russische Kontrolle über ukrainische Gebiete gelassen. Vor dem Parlament sagte er: «Vielleicht muss die Ukraine jemanden in Moskau überleben, um ihre Ziele zu erreichen und das gesamte Staatsgebiet wieder herzustellen.»

Das heisst konkret: Der Krieg könnte eingefroren werden, bis der russische Präsident Wladimir Putin (72) nicht mehr an der Macht ist. Der ehemalige Bundeswehr-Oberst Wolfgang Richter (75) vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik glaubt, dass dieses Szenario mit Hilfe von US-Präsident Donald Trump (78) tatsächlich und schon im Februar 2025 umgesetzt werden könnte.

Wir zeigen drei mögliche Szenarien, wie sich der Krieg nun entwickeln kann. Sie bewegen sich zwischen Hoffnung und einem dritten Weltkrieg.

Einfrieren mit vorübergehender Gebietsabtretung

Ausgangslage: Die Kampfhandlungen werden eingestellt. Die Ukraine akzeptiert, dass Russland vorübergehend die Kontrolle über die eroberten Gebiete im Osten und Süden sowie die Krim behält, betrachtet sie aber weiterhin als ihr Territorium.

Folgen: Das brutale Töten hört auf, die Wirtschaft kann stabilisiert werden. Es öffnet sich Raum, um diplomatische Kanäle neu zu aktivieren. Die Hoffnung liegt darin, dass während der Atempause in Moskau eine friedvollere Regierung an die Macht kommt.

Gefahr: Russland kann die Zeit nutzen, um weiter aufzurüsten und später mit noch grösserer Kraft zuzuschlagen. Die Ukraine hat weiterhin keinen Zugriff auf ihre wichtigen Wirtschaftsinfrastrukturen wie Kohle- und Metallindustrie in den besetzten Gebieten.

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Donald Trump und Wladimir Putin 2018 in Helsinki: Finden sich die beiden zu einem Kompromiss?
Foto: AFP

Zudem kann sich ein eingefrorener Konflikt jederzeit leicht wieder entzünden. Trotz der beiden Minsker Abkommen über eine Waffenruhe starben im Donbass zwischen der Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 gegen 15'000 Menschen.

Krieg ohne US-Hilfe

Ausgangslage: Der designierte US-Präsident Trump fährt – wie er angetönt hatte – die Hilfe an die Ukraine herunter oder stellt sie sogar ganz ein.

Folgen: Mit der Unterstützung ausschliesslich aus Europa würde die Ukraine wahrscheinlich auf eine Niederlage zusteuern. Dies könnte zu folgenden Szenarien führen: Im besten Falle teilen die Russen das Land und zwingen der Rest-Ukraine eine russlandfreundliche Regierung auf. Möglich ist auch, dass Moskau das ganze Land annektiert und im Soge des Erfolgs Angriffe auf weitere ehemalige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten startet.

Gefahr: Spätestens, wenn Russland Nato-Staaten angreift, käme es zur direkten Konfrontation des Ost- und des West-Blocks. Es bestünde massive Eskalationsgefahr.

Externe Inhalte
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Langer Kampf mit Gefahr eines dritten Weltkrieges

Ausgangslage: Trump unterstützt die Ukraine – entgegen seinen Aussagen – weiterhin. Wie sich bisher gezeigt hat, wären in diesem Falle beiden Fronten etwa gleich stark – ausser die USA greifen selber in den Krieg ein.

Folgen: Was das bedeuten könnte, zeigt sich in der Reaktion des Kremls auf den nun freigegebenen Einsatz von US-Raketen gegen Ziele auf russischem Boden. In Moskau wertet man solche Angriffe neu als Aggression der Nato und droht mit dem Einsatz von Atomwaffen und einem dritten Weltkrieg.

Gefahr: Die aktuelle Gewaltspirale setzt sich fort: Es kommt zu einem langen Zermürbungskrieg mit massivem Eskalationspotenzial.

Experte glaubt an Waffenstillstand

Der Militärexperte Wolfgang Richter vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik hält es für möglich, dass es tatsächlich zu einer Einfrierung der Fronten kommen wird: «Die Ukraine, die unter einem Personalmangel leidet und die rund 160'000 zusätzliche Soldaten mobilisieren will, wird eine De-facto-Gebietsabtretung akzeptieren müssen, sie aber nicht völkerrechtlich anerkennen. Im Gegenzug müsste sie aber robuste Sicherheitsgarantien erhalten.»

Mit «robusten Sicherheitsgarantien» meint Richter nicht etwa den Nato-Beitritt, weil den Russland nicht akzeptieren würde. Die Ukraine müsste aber die nationale Verteidigungsfähigkeit stärken dürfen und auf bilaterale Garantien zählen können. Zudem müsste eine von beiden Seiten akzeptierte Friedenstruppe mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates den Waffenstillstand absichern.

Falls die US-Hilfe entfällt, würden laut Richter auch einige europäische Staaten ihre Hilfe herunterfahren. «Wir stehen vor Wahlen, und die der Ukraine-Hilfe kritisch eingestellten Parteien werden immer stärker.»

Unberechenbarer Trump

Zurzeit nimmt Russland die Ukraine besonders intensiv unter Beschuss. Im Gegenzug haben die Ukrainer grünes Licht bekommen, mit US-Raketen Ziele in Russland angreifen zu dürfen. Die Lage eskaliert!

Richter hält diese Eskalation aber für wahrscheinlich vorübergehend. «Beide Seiten wollen sich noch möglichst viele militärische Vorteile verschaffen, bis Trump antritt.» Vom neuen US-Präsidenten erwartet er, dass er schon im Februar 2025 versuchen könnte, die beiden Kriegsparteien zu einem Kompromiss zu bewegen.

Was sagt Putin dazu? Es gibt unterschiedliche Meldungen. Laut der Nachrichtenagentur Reuters zeigt er Bereitschaft, über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (57) weist dies allerdings zurück.

Richter hat also gewisse Hoffnung auf eine Waffenruhe. Allerdings schliesst er nicht aus, dass Trump bei einem Scheitern der Verhandlungen eine 180-Grad-Wende vollziehen und die Ukraine noch massiver unterstützen könnte. «Dann», so sagt Richter, «stehen wir in einer Spirale der Eskalation, die ganz Europa in Gefahr bringen könnte.»

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