Eben noch feierte sich Grossbritannien als das Land, das als erste westliche Nation einen Corona-Impfstoff genehmigt und mit einer Impfkampagne beginnt. Die Hoffnung, dass sich mit der Immunisierung das Ende der Pandemie abzeichnet, währte nur kurz. Am Samstagabend verhängte der britische Premier Boris Johnson (56) einen harten Lockdown für London und weite Gebiete im südlichen England. Der Grund: eine Coronavirus-Mutation, die 70 Prozent ansteckender ist.
Die Niederlande verhängten umgehend ein Verbot für Flüge aus Grossbritannien. Dem Beispiel folgten am Sonntag fast ein Dutzend weitere Länder, darunter Italien, Belgien und die Schweiz.
Inzwischen ist auch jeglicher Personenverkehr zwischen Grossbritannien und Frankreich für mindestens 48 Stunden gestoppt worden. Schiffsverbindungen nach Dover, die England mit dem europäischen Festland verbinden, sowie der Eurotunnel zwischen Frankreich und England schliessen in der Nacht auf Montag. Damit blockieren die Franzosen auch den Lastwagenverkehr mit dem Inselreich.
Leo T. (19): Zwangstest nach Landung aus London
In der Nacht auf Sonntag verhängte auch Deutschland ein Verbot für Flüge von Grossbritannien nach Deutschland. Nach der Landung der letzten Maschinen in Deutschland herrschte auf Flughäfen zunächst noch Chaos und Verwirrung. Am späteren Sonntag hiess es erst, nicht-deutsche Reisende aus Grossbritannien dürfen einreisen, wenn sie negativ auf Corona getestet wurden. Die Regel gilt seit dem späten Sonntagabend auch für deutsche Staatsbürger. Alle Flugpassagiere aus Grossbritannien müssen nach der Landung ausserdem einen Corona-Schnelltest machen.
Leo T. (19), wohnhaft im Thurgau, war am späten Sonntag an Bord einer Maschine von London Heathrow nach Stuttgart. Nach der Landung gehörte in Gruppen von 20 Passagieren ins Testzentrum marschiert. «Alles ging relativ schnell, aber insgesamt sicher eine Stunde», erzählt T.
Mutierter Coronavirus in Grossbriannien
Beim Check-in in London habe es noch geheissen, Deutsche müssten nicht testen. «Diese Regel hat sich dann geändert, während wir in der Luft waren.» Passagiere mit deutschem Pass kamen zuerst zum Testen, ausländische Staatsbürger mussten länger warten. In seiner Gruppe testete offenbar niemand positiv: «Alle hatten ein negatives Testergebnis und durften ihr Gepäck holen.»
Feldbetten für Passagiere, die Flughafen nicht verlassen dürfen
Andere, wie die «Bild» berichtet, werden am Flughafen festgehalten, wie zum Beispiel in Hannover. Als Vorsichtsmassnahme dürfen Passagiere aus Grossbritannien weder Einheimische noch Ausländer den Transitbereich des Flughafens verlassen.
Es komme zu dramatischen Szenen. Ganze Familien würden gegen ihren Willen festgehalten. Mitsamt Kleinkindern und Säuglingen habe eine Familie die Nacht auf Feldbetten verbringen müssen. «Es sind hier Leute mit einem kleinen Baby», wird eine festsitzende Passagierin zitiert. «Es gibt einen neuen positiven Strang. Wir sollen jetzt alle in einer Halle sein, damit wir auch wirklich alle Coronavirus bekommen.»
«Paria»-Briten fürchten Zusammenbruch der Versorgung
Währenddessen wird Grossbritannien wegen der Virusmutation von Europa abgeschottet. Die Abriegelung Grossbritanniens erfolge, «um Europa zu schützen», schreibt die britische Zeitung «The Sun». «Paria Great Britain», titelt die britische «Daily Mail» (ausgestossenes Grossbritannien). Die neuesten Infektionszahlen aus Grossbritannien sind dramatisch. Am Sonntag wurde mit 35'928 Fällen ein neuer Rekord an Neuinfektionen gemeldet. Vor einer Woche waren es noch 18'447 Neuinfektionen – und 144 Covid-19-Todesfälle. An diesem Sonntag sind es schon 326 Todesfälle, mehr als doppelt so viele wie vor einer Woche.
Mit der Streichung von Flügen, Fähren und Zügen von und nach Europa herrscht in Grossbritannien Angst vor einem Zusammenbruch der Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern. Angesichts eines drohenden «No Brexit»-Deals haben sich die Briten zwar seit Monaten auf mögliche Versorgungsengpässe vorbereitet. Mit einer Abschottung von Europa praktisch über Nacht hat niemand gerechnet.
«Die heute Nacht erfolgte Aussetzung des begleiteten Frachtverkehrs von Grossbritannien nach Frankreich hat das Potenzial, die Versorgung mit frischen Lebensmitteln zu Weihnachten ernsthaft zu gefährden», zitiert «The Sun» Ian Wright vom britischen Lebensmittel- und Getränkeherstellerverband. Industriekreise befürchten demnach Panikkäufe, worauf die Versorgungslage komplett zusammenbrechen könnte. Regierungschef Johnson hat für Montag ein Krisentreffen einberufen. Ein «steter Fluss von Fracht» aus und nach Grossbritannien müsse sichergestellt werden.