Horror in Hamburg: Am Donnerstagabend fielen 135 Schüsse bei einer Zusammenkunft der Zeugen Jehovas. Philipp F.* (†35), der mutmassliche Täter, erschoss sieben Menschen, verletzte mindestens acht Personen teils schwer und soll sich danach selbst gerichtet haben.
Der Todesschütze ist ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas und hat diese vor eineinhalb Jahren freiwillig – aber offenbar nicht im Guten – verlassen. Auch nach seinem Austritt trat er im Netz sehr religiös auf, publizierte Texte über seine Ansichten zu Gott und Satan.
Gegenüber der «Augsburger Allgemeinen» gibt ein naher Verwandter von F., der in regem Kontakt mit dem Täter stand, nähere Details zu ihm preis. «Er ist komplett einem religiösen Wahn verfallen, hatte Visionen, fühlte sich verfolgt», sagt er über die Zeit nach dem Austritt.
«Ich hatte sofort die Befürchtung, dass er es ist», erklärt der Mann, den die Zeitung nur mit Pseudonym zitierte. Er habe gewusst, dass F. psychisch «sehr angeschlagen» gewesen sei. Dem Todesschützen wurde vom zitierten Verwandten, aber auch von anderen Familienmitgliedern, immer wieder nahegelegt, sich Hilfe zu holen. «Aber er wollte keine.»
«Wenn ich gewusst hätte, was hinter den Kulissen passiert...»
Der Verwandte, nach eigenen Angaben selbst Aussteiger, habe F. im vergangenen Sommer das letzte Mal gesehen. Dabei sei er «hochaggressiv» aufgetreten. «Das hatte nichts mehr mit dem Menschen zu tun, den ich kannte.» Eine erneute Kontaktaufnahme diesen Januar blieb von F. unbeantwortet. «Er wollte seinen eigenen Wahn und seine Erkrankung nicht wahrhaben.»
F. wuchs in Kempten im Allgäu (D) auf und machte eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei einer deutschen Privatbank. Dann studierte er Betriebswirtschaftslehre. Schon früh wurde er mit den Zeugen Jehovas konfrontiert, viele Verwandte waren Teil der Gemeinde.
Als F. mit Anfang 20 aus beruflichen Gründen nach Hamburg gezogen ist, kam er dort Jahre später erneut mit Zeugen Jehovas in Kontakt. «Er hat dann aber schnell durchschaut, wie das System der Zeugen Jehovas funktioniert, dass er belogen worden war. Einmal sagte er: ‹Wenn ich gewusst hätte, was hinter den Kulissen passiert, dann wäre ich nie beigetreten.›» Nach eineinhalb Jahren sei er wieder ausgetreten – «und dann in kompletten Wahn verfallen».
Zeugen Jehovas geben neue Details bekannt
Der Sprecher der Hamburger Zeugen Jehovas, Michael Tsifidaris, äusserte sich am Samstag vor der Presse. Zum Austritt vom F. sagte er nicht viel – nur, dass es sich um eine persönliche Entscheidung gehandelt habe. So ein Austritt wirke sich aber auf die persönlichen Beziehungen zu Gemeindemitgliedern und auch Freunden aus.
Tsifidaris bestätigt zudem, dass es innerhalb der Gemeinde Differenzen über die Idee und Realisierung des Buches von F. gegeben haben. Ende 2022 hat F. das Buch unter dem Titel «Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan» veröffentlicht. Zumindest im Netz schreiben Zeugen Jehovas, dass dies zum Rauswurf von F. geführt hat. Die Hamburger Polizei tätigt diesbezüglich allerdings noch Abklärungen.
Polizei hat im Januar schon Hinweise erhalten
Der Deutsche war Sportschütze. Als Extremist war er allerdings nicht bekannt. Seit dem 12. Dezember sei er im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole gewesen, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (63). Dabei handle es sich um die Tatwaffe.
Die Waffenbehörde erhielt im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F. Laut dem unbekannten Schreiber sei die psychische Erkrankung von F. möglicherweise ärztlich nicht diagnostiziert, da sich F. nicht in ärztliche Behandlung begebe. F. habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Anhänger gehegt, besonders auf die Zeugen Jehovas und seinen ehemaligen Arbeitgeber.
Mögliche Konflikte innerhalb der Glaubensgemeinschaft schliessen die Ermittler nicht aus. Polizeipräsident Meyer sagte, es gebe Hinweise auf einen Streit «möglicherweise aus dem Bereich der Zeugen Jehovas». Das müsse nun geprüft werden. (chs)
*Name bekannt