Tiefer fallen als Eva Kaili (44) kann man kaum. Vor wenigen Wochen noch sass die Vizepräsidentin des EU-Parlaments im Regierungspalast von Katar und tönte laut, sie «repräsentiere 500 Millionen EU-Bürger». Seit Freitag sitzt sie im Knast. Gestern dann wurde die Griechin endgültig aus den paradiesischen Sphären des in Strassburg beheimateten Parlaments verstossen: Sie verlor ihren Titel als Vizepräsidentin (fürs EU-Parlament freilich kein Problem, es hat noch 13 andere Vizepräsidenten).
Katar – so lautet der Vorwurf der belgischen Justiz – hat die einstige TV-Moderatorin mit Säcken voller Geld bestochen und sich damit eine Fürsprecherin im mächtigen EU-Parlament gekauft. 600'000 Euro soll Kaili erhalten haben. Einen knappen Drittel davon hat sie unter dem Kinderbettchen ihrer zweijährigen Tochter versteckt.
Katars korrupter Plan schien aufzugehen: Eva Kaili machte hinter und vor den Kulissen kräftig Werbung für den Golfstaat, lobte die Emire für ihren Umgang mit den Arbeitnehmern, setzte sich gegen eine Katar-kritische Resolution des Parlaments ein und bat ihre Parlamentskollegen, doch bitte auch ab und an mal ein gutes Wort über die Heimat der Fussball-WM 2022 zu verlieren.
Grösster Korruptionsskandal in EU-Geschichte
Dumm nur, dass die belgische Polizei seit diesem Sommer eine gross angelegte Antikorruptionsuntersuchung im EU-Parlament durchführte. Kaili ging ihnen ins Netz. Neben dem Hauptfang verhafteten die belgischen Fahnder sieben weitere Parlamentarier und Assistenten. In Brüssel durchsuchten sie am Freitag 16 Häuser. Am Montag fanden sie bei einer neuen Durchsuchung noch einmal rund eine Million in Cash. Die Vermögenswerte von Eva Kaili und ihrer Familie in Griechenland wurden eingefroren. Katar, Kaili und die anderen Beschuldigten wollen alle nichts von Bestechung oder Korruption wissen.
Sollte sich der Verdacht erhärten, dann wäre die Causa Kaili der grösste Korruptionsskandal in der Geschichte des EU-Parlaments, der einzigen direkt von den EU-Bürgern gewählten Institution in der Europäischen Union. Der Ruf der gesamten EU wäre stark angekratzt, das Bündnis dürfte kaum noch Glaubwürdigkeit haben, wenn es sich etwa als moralische Instanz gegenüber vermeintlichen Schelmenstaaten wie Ungarn oder Polen aufspielt. Europa, der geopolitische Zwerg im aktuell sowieso schon dramatischen Weltenspiel, läge entblösst am Boden.
Aktueller Fall «nur die Spitze des Eisbergs»
Vitor Teixeira (38) überrascht das gar nicht. «Das System im EU-Parlament funktioniert überhaupt nicht. Es herrscht eine Kultur der Straflosigkeit. Die Bussen bei Verstössen gegen die Parlamentsregeln sind viel zu lasch», sagt der gebürtige Portugiese, der für die Antikorruptionsorganisation Transparency International die Institutionen der EU durchleuchtet. «Der aktuelle Fall mit Kaili und Katar ist sehr wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges.» Drittstaaten mit böswilligen Absichten hätten wegen des anfälligen Regelwerks ein leichtes Spiel, wenn sie ins politische Geschehen in Strassburg und Brüssel eingreifen wollten.
Teixeira redet sich am Telefon regelrecht in Rage, wenn er über die Mechanismen des 705-köpfigen Bürokratie-Monstrums mit Sitz in Strassburg spricht. «Vor drei Jahren haben Hunderte von ihnen ein Versprechen unterzeichnet, dass sie sich für einen neuen Überwachungsmechanismus zum Kampf gegen die Korruption einsetzen würden. Geschehen ist seither ganz genau nichts», enerviert er sich.
Mehr zum EU-Korruptionsskandal
Die Korruptionsanfälligkeit des EU-Parlaments, das für alle EU-Bürger geltende Gesetze beschliesst und Kandidaten für die EU-Kommission (sozusagen der Bundesrat der EU) auswählt, erklärt sich der Antikorruptionsmann Teixeira so: Die einzigen Personen, die bei Verdacht auf korrupte Tätigkeiten eines Parlamentsmitgliedes aktiv werden könnten, seien die Präsidentin und ihre 14 Vizepräsidenten. Während der letzten fünfjährigen Parlamentsperiode hat es 24 Verdachtsmeldungen an deren Adresse gegeben. «Bestraft wurden genau null Personen.»
Höhere Strafen und bessere Spesenkontrollen
Die Lösung wäre laut Vitor Teixeira einfach: Die Präsidentin und ihre Stellvertreter müssten ihre Kompetenzen im Kampf gegen die Korruption an eine fachlich kompetente Stelle abgeben. «Dazu braucht es einen übergeordneten Überwachungsmechanismus und deutlich schärfere Strafen für straffällige Parlamentarier.» Die maximale Strafe, die korrupten Mitgliedern des EU-Parlaments heute droht: 30 Tage Spesenverzicht. Das mit den Spesen sei sowieso so eine Sache, sagt Teixeira. Auch hier gäbe es kaum Transparenz, wer wofür genau welche Beträge ausgebe. Alles Geld, übrigens, das direkt von den EU-Steuerzahlern in die Taschen der Parlamentarier fliesst.
Für die EU als Ganzes kommt die Korruptionsaffäre im Strassburger Parlament einer Katastrophe gleich. «Das Vertrauen der Menschen in die europäischen Institutionen ist total zerstört. Das EU-Parlament muss jetzt lange und direkt in den Spiegel schauen und die Konsequenzen ziehen», sagt Vitor Teixeira. Dass es das wirklich tut, glaubt der Portugiese nicht. Schliesslich sind 2024 wieder Parlamentswahlen. Bis dahin soll alles vergessen sein im Strassburger Spesenparadies.