Riesiger Missbrauchsprozess gegen französischen Arzt
«Ich rief in Panik nach meinem Vater»

In Frankreich beginnt ein Prozess gegen einen Arzt, der jahrzehntelang Patienten missbraucht haben soll. Dem 74-Jährigen wird vorgeworfen, 299 meist minderjährige Opfer während Narkosen sexuell missbraucht zu haben.
Publiziert: 27.02.2025 um 05:55 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2025 um 11:59 Uhr
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Joël Le Scouarnec muss sich für seine monströsen Taten verantworten.
Foto: AFP

Darum gehts

  • Ein Chirurg steht in Frankreich wegen Missbrauch von 299 Patienten vor Gericht
  • Detaillierte Tagebücher und kinderpornografisches Material wurden bei einer Durchsuchung sichergestellt
  • Das Durchschnittsalter der Opfer betrug elf Jahre
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Über Jahrzehnte soll ein Chirurg in Frankreich junge Patienten – oft während der Narkose – missbraucht und darüber akribisch Tagebuch geführt haben. Wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs von 299 meist minderjährigen und bewusstlosen Patienten steht Joël Le Scouarnec (74) von diesem Montag an im westfranzösischen Vannes vor Gericht.

Zwischen 1989 und 2014 soll er insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen missbraucht haben. 15 weitere Fälle sah die Staatsanwaltschaft als verjährt an. Der Angeklagte hat viele der ihm vorgeworfenen Taten gestanden. Der Prozess soll bis Juni dauern. Dem pensionierten Arzt drohen bis zu 20 Jahre Haft.

«Nicht die leiseste Ahnung gehabt»

Die Ex-Frau des Angeklagten bestreitet ihre Mitwisserschaft. «Es gab nichts, was darauf hingewiesen hätte, nichts und wieder nichts», sagte die 71-Jährige am Mittwochabend vor Gericht in Vannes. «Ich habe nie die leiseste Ahnung gehabt.»

Seine Ex-Frau sagte vor Gericht weiter aus, dass sie nicht einmal gewusst habe, dass ihr damaliger Mann bereits 2005 wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden sei - was sie während der Ermittlungen noch eingeräumt hatte. «Das habe ich nie gesagt», erklärte sie nun angesprochen auf ihre frühere Aussage.

Nacktfotos und Briefe als Beweis

Auf die Vorlage von Briefen während der Gerichtsverhandlung, in denen sie Kindesmissbrauch durch ihren Mann erwähnte, reagierte die Ex-Frau nicht. Sie weigerte sich auch, Nacktfotos anzusehen, die ihr damaliger Mann von einer schlafenden Nichte im Kindesalter gemacht hatte.

Auf die Frage, warum sie nichts bemerkt habe, antwortete sie, dass sie «keinen Blick für das Böse» habe. Zudem führte sie ihre «Hyperaktivität» an. Wenn sie etwas erfahren hätte, wäre sie zur Polizei gegangen, erklärte sie. Sie sagt zudem aus, dass sie selber als Kind zweimal von Onkeln vergewaltigt worden sei.

Der Bruder des Angeklagten hatte sie zuvor beschuldigt, ihren Mann gedeckt zu haben. «Sie wusste über die Taten ihres Mannes Bescheid und hat nichts unternommen», sagte er. Er warf seiner früheren Schwägerin vor, aus finanziellen Interessen mit ihrem Mann zusammengeblieben zu sein.

Missbrauch an bewusstlosen Kindern im OP

Zum Zeitpunkt des Missbrauchs befanden sich viele Opfer etwa nach einer Blinddarmoperation im Operationssaal, in der Phase der Anästhesie, des Aufwachens, der Sedierung oder des Einschlafens, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Sie waren sich des Missbrauchs somit nicht bewusst und konnten den Arzt später auch nicht anzeigen.

Das Durchschnittsalter der Opfer betrug elf Jahre, in 111 Fällen wird dem Arzt schwere Vergewaltigung angelastet, so die Staatsanwaltschaft. Gutachter stellten bei den Opfern posttraumatische Syndrome, Blockaden und körperliche Beschwerden infolge psychologischer Belastungen fest.

Die erschütternde Tragweite des Prozesses um hundertfachen Missbrauch gegen einen Chirurgen in Frankreich wird gleich zum Auftakt im Gerichtssaal spürbar, als ein junger Mann an das Mikrofon tritt. «Ich erinnere mich in Teilen an die Taten im Aufwachsaal und wie ich in Panik nach meinem Vater rief», sagt der Mann mit langem Bart mit klarer Stimme. Zu dem Missbrauch an ihm kam es der Anklage zufolge 1995. Als kleines Kind war er damals Patient des Arztes, den Justizwärter kurz zuvor zur Anklagebank geführt haben.

Angeklagter führte über Missbrauch akribisch Buch

Den jahrzehntelangen Missbrauch hielt Le Scouarnec detailreich in Tagebüchern fest, die Fahnder bei einer Durchsuchung sicherstellten, ebenso wie rund 300'000 kinderpornografische Fotos und Puppen. In den Tagebüchern war auch die Rede von sexuellen Handlungen an Puppen und Tieren.

Mit einer der wohl schlimmsten Missbrauchsserien in Frankreich bringt man den unscheinbar wirkenden Rentner auf den ersten Blick nicht in Verbindung, als dieser in den Gerichtssaal gebracht wird. Der Mann mit Halbglatze und grauen Haaren behält seine dunkle Winterjacke zunächst an, als er sich auf die Anklagebank setzt. Durch eine Brille mit Metallrand blickt er in den Gerichtssaal, wo ihm etliche seiner inzwischen erwachsenen Opfer gegenübersitzen. Fühlt er sich schuldig? Ist ihm die Traumatisierung bewusst, die er bei vielen der Opfer ausgelöst hat? Eine grosse Gefühlsregung zumindest ist aus seinem Gesicht nicht ablesbar.

Wegen vier Missbrauchsfällen wurde der Arzt 2020 bereits zu 15 Jahren Haft verurteilt. Ins Rollen gebracht hatte die Ermittlungen 2017 die Anzeige einer Nachbarin, deren sechsjährige Tochter der Arzt im Garten missbraucht haben soll. 2005 schon war der Mediziner wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, ohne dass dies disziplinarische Konsequenzen für seine Tätigkeit als Arzt hatte.

Kaum ein Kollege in der Klinik schöpfte Verdacht

Wieso das Tun des Arztes in den vielen Jahren nicht in einer der Kliniken auffiel, wo er arbeitete – auch dieser Frage gingen die Ermittler nach. Wie die Zeitung «Le Monde» unter Verweis auf die Ermittlungen berichtete, hatte von den rund 100 befragten Kollegen des Angeklagten keiner einen konkreten Verdacht auf abweichendes Verhalten. Lediglich zwei Ärzten kam der Chirurg komisch vor – Hinweise darauf an höherer Stelle blieben aber ohne Reaktion. Auch seine Ex-Frau will von dem fortgesetzten Missbrauch erst bei der Festnahme ihres früheren Gatten erfahren haben.

Irgendwelche Skrupel angesichts seiner Taten hatte Le Scouarnec wohl nicht. «Während ich meine Morgenzigarette rauchte, dachte ich darüber nach, dass ich ein grosser Perverser bin», zitierte «Le Monde» einen Tagebucheintrag des Angeklagten aus dem Jahr 2004. Er sei Exhibitionist, Voyeur, Sadist, Masochist, Fetischist und Pädophiler. «Und ich bin sehr glücklich damit.»

Um die dem Arzt angelasteten Taten in dem bislang wohl grössten Prozess in Frankreich um Kindesmissbrauch aufzuarbeiten, wurden in der Provinzstadt Vannes eigens Gebäude in der Nähe des Gerichts mit Millionenaufwand hergerichtet. Sie müssen den knapp 300 Opfern und ihren Anwälten Platz bieten. 265 Journalisten haben sich für den Prozess angemeldet.

Das Gerichtsverfahren in Westfrankreich ist der zweite grosse Missbrauchsprozess in Frankreich binnen einiger Monate. Kurz vor Weihnachten war der Prozess von Avignon geendet. Wegen schwerer Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft verurteilte das Gericht einen Rentner, der seine damalige Frau über Jahre hinweg immer wieder mit Medikamenten betäubte, missbrauchte und von Dutzenden Fremden vergewaltigen liess. 50 mitangeklagte Männer verurteilte das Gericht zu Haftstrafen zwischen 3 und 15 Jahren.

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