Der Krieg in der Ukraine tritt in eine neue Dimension ein. Die Gefahr, dass er sich auf weitere Länder ausbreitet, steigt. Der ukrainische Präsidentenberater Serhij Leschtschenko (41) warnte am Freitag: «Putin wird auch Nato-Länder angreifen. Ganz einfach, um zu zeigen, dass die globalen Institutionen schwach sind.» Putin habe nicht nur zum Ziel, die Ukraine von der Landkarte zu löschen, sondern auch, die globale Ordnung zu zerstören.
Er ist lange nicht der Einzige, der so pessimistisch ist. Auch der Luhansker Gouverneur Sergiy Gayday (46) warnte im Blick, dass Wladimir Putin (69) bald auch die baltischen Staaten angreifen würde und dass Europa Putin die Stirn bieten müsse. «Sonst», so sagte Gayday zu Blick, «werden auf die Strassen von Warschau, Berlin und andern Städten ebenfalls Bomben abgeworfen.»
Provokationen nehmen zu
Grund für die Warnungen sind mehrere Anzeichen: Oligarchen machen auf Putin Druck, den «totalen Krieg» zu starten, und Moskau droht mit Bombenangriffen auf westliche Politiker, die in die Ukraine reisen.
Selbst vor dem UN-Generalsekretär schrecken die Russen nicht zurück: Als António Guterres (72) am Donnerstag Kiew besuchte, wurde die Hauptstadt erstmals seit zwei Wochen wieder beschossen.
Zudem hat Russland die Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien eingestellt. Es droht ein grosser Versorgungsengpass. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki (53) bezeichnete diesen Schritt als «direkten Angriff» auf sein Land.
Am Donnerstag betonte Margarita Simonjan (42), Chefredaktorin des russischen Staats- und Propagandasenders Russia Today, dass Putin niemals aufgeben werde. Moskaus Chef-Propagandistin sagte: «Entweder wir verlieren gegen die Ukraine, oder es beginnt der dritte Weltkrieg. Ich halte den Weg des dritten Weltkriegs für realistischer.»
Aussenminister Sergei Lawrow (72) doppelte nach und sagte zum Thema Weltkrieg: «Die Gefahr ist ernst, sie ist real, sie darf nicht unterschätzt werden.»
Ukraine schiesst über die Grenze
Auch der Westen hat den Ton massiv verschärft. Die USA haben beschlossen, mit einer Neuauflage des Leih-und Pachtgesetzes der Ukraine sowie bedrohten osteuropäischen Ländern ohne grosse Formalitäten Rüstungsgüter liefern zu können. Im Zweiten Weltkrieg half der «Lend-Lease Act» Präsident Roosevelts mit, die Nazis zu besiegen. US-Präsident Joe Biden (79) plant dazu Investitionen von 33 Milliarden Dollar.
Und auch Deutschland liefert der Ukraine nun Panzer. Die Briten entsenden zudem 8000 weitere Soldaten nach Osteuropa.
Sicherheitsexperte Mauro Mantovani (58) sagt zu Blick: «Lend-Lease ist Ausdruck der Einsicht, dass die USA sich in einer epochalen Konfrontation mit Russland sehen. Der Ukraine-Krieg wird zum zentralen Stellvertreter-Kriegsschauplatz.»
Offenbar hat die Ukraine nun auch begonnen, Ziele in Russland anzugreifen. Nach russischen Angaben sind in Krupez und im Gebiet Brjansk Grenzübergänge mit Granatwerfern beschossen worden. Schon Anfang April hatte Russland nach einem Brand in einem Öllager in Belgorod die Ukraine dafür verantwortlich gemacht.
Mehr über die Gefahr eines neuen Weltkrieges
Mantovani: «Solche Vorfälle sind interpretierbar als Versuch der ukrainischen Seite, den Krieg nach Russland auszuweiten oder zumindest ihre diesbezüglichen Fähigkeiten zu demonstrieren.»
Der 9. Mai steht vor der Tür
Dass Putin den Druck gerade jetzt erhöht, dürfte unter anderem mit dem nahenden 9. Mai zu tun haben. Mantovani: «Am Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland muss Putin einen Erfolg gegen das angebliche Nazi-Regime in Kiew vorweisen können.»
Als Minimalerfolg sieht der Militärexperte die Landbrücke zur Krim, was eine vollständige Einnahme von Mariupol voraussetze. Er schliesst nicht aus, dass Putin nun auch chemische Waffen einsetzen könnte, um an dieses Ziel zu gelangen.
Nuklear-Krieg bei Putin-Niederlage
Der Krieg wird sich laut Mantovani weiterhin auf die Ukraine sowie allenfalls auf das moldawische Gebiet Transnistrien konzentrieren. Dass Putin den Krieg auf Nato-Gebiet ausweitet, hält Mantovani «wegen der damit verbundenen unkalkulierbaren Risiken vorläufig für sehr unwahrscheinlich».
Für Mantovani ist aber auch klar: Eine Niederlage kann sich Putin nicht leisten, da er und seine Entourage dann mit der Absetzung oder «noch schlimmeren Konsequenzen» rechnen müssten. Putin werde daher im – für ihn – schlimmsten Fall alle Register ziehen. Mantovani: «Eine operative Niederlage der russischen Armee würde eine Eskalation über die nukleare Schwelle wahrscheinlicher machen.»