Er ist durch die Hölle gegangen. «Zum Spass zogen sie mir mehrere Zähne. Sie zwangen mich, Wasser aus einer Pfütze im Mund an eine andere Stelle im Hof zu tragen. Ich zählte mit, 14-mal musste ich auf den Elektrostuhl, bis mein ganzer Körper krampfte», sagt Oleksij Anulja (30) zum «Spiegel».
Der Ukrainer geriet im Krieg in russische Gefangenschaft. Zehn Monate. Was er in dieser Zeit erlebt und durchlebt hat, berichtet er voller grausamer Details. Er will wachrütteln und zeigen, was in den russischen Lagern den Gefangenen tatsächlich angetan wird. Bis ins kleinste Detail lassen sich seine Angaben nicht verifizieren, aber die Daten und Informationen, die in seinem Bericht vorkommen und sich überprüfen lassen, wurden vom «Spiegel» kontrolliert.
«Mein Bein hatte angefangen zu verrotten»
«Vor der Gefangenschaft wog ich 102 Kilogramm, nach meiner Rückkehr 40 Kilo weniger. Meine Nase war gebrochen, der Kiefer verrenkt. Mein Schlüsselbein und acht Rippen waren gebrochen. Meine Muskeln waren gerissen, die Menisken beschädigt», so Anulja weiter. Er geriet im März 2021 in die Fänge von Putins Truppen. Bevor er in das Gefangenlager kam, wurde er mehrfach verprügelt und beschimpft.
«In einem kleinen Bus brachten sie mich über die russische Grenze in ein Zeltlager. Ein paar Wochen später fuhren sie mich mit anderen Kriegsgefangenen in ein Untersuchungsgefängnis in Kursk.» Dort blieb er 40 Tage.
Dann wurde er in ein Flugzeug gebracht. Der Mund zugeklebt, eine Tüte über dem Kopf. «Sie sagten, wir würden nach Hause fliegen. Als wir ausstiegen, verprügelten uns russische Spezialeinheiten. Mein Bein hatte angefangen zu verrotten. Durchgestreckt tat es höllisch weh. Also hielt ich es abgespreizt vom Körper, auf dem anderen hüpfte ich. Sofort gaben mir die Russen den Spitznamen ‹Grashüpfer›.»
Immer wieder hallten Schreie durch die Gänge
Mit dem Flugzeug wurde er in die Strafkolonie Nr. 1 in Donskoi bei Tula in Zentralrussland gebracht. Das «Willkommenskomitee» wartete bereits. «Die Wärter prügelten uns mit Schlagstöcken, traktierten uns mit Elektroschockern. Zu fünfzigst drängten sie uns auf einen kleinen Hof. Dort mussten wir stundenlang ausharren. Wir sollten in einen Kanister pinkeln, durften ihn nicht auf russischem Boden ausleeren. Bei wem der Kanister voll wurde, musste ihn austrinken.»
Morgens mussten alle die russische Nationalhymne singen. Dann gab es Frühstück. Etwas Haferbrei, eine Scheibe Brot und ein Glas Wasser – kochend heiss. Danach ging es auf den Hof. Dort wurden die Gefangenen geschlagen. Die meiste Zeit verbrachte Anulja in seiner Zelle. Stehend. Immer wieder hallten Schreie durch die Gänge. Kein Wunder: Regelmässig gab es Schläge. «Schaute ich meine Mitgefangenen an, sah ich die Angst in ihren Augen.»
«Ich ernährte mich von Zahnpasta»
Die Wärter hatten Narrenfreiheit. Einmal musste der Ukrainer auf seinen dreckigen Socken herumkauen – fast drei Stunden. «Zum Spass zogen sie mir mehrere Zähne.» Und nicht nur das: «Ich zählte mit, 14-mal musste ich auf den Elektrostuhl, bis mein ganzer Körper krampfte.» Die Schmerzen, die Qual, all das sei notwendig, um die Ukrainer zu erziehen. Vom Faschismus zu befreien, den die Männer in der Ukraine angeblich erlebt hätten.
Nach fast vier Monaten wurde Anulja verlegt. Er kam in eine Strafkammer. Isolationshaft. Kein Fenster, Schimmel an den Wänden. «Ich ernährte mich von Zahnpasta, die ich aus dem Abfall fischte, ich kaute auf Toilettenpapier gegen den Hunger. Auf dem Hof sammelte ich Regenwürmer.»
Sohn erkannte ihn nicht wieder
Er hielt durch, wollte auf keinen Fall in Russland sterben, weil seine Kinder sonst niemals sein Grab besuchen könnten. Am Ende wurde er Teil eines grossen Gefangenaustausches mit der Ukraine. Oleksij Anulja kam frei. «Mein Sohn, mittlerweile fünf Jahre, erkannte mich nicht wieder. Meine ältere Tochter weinte, als sie mich so mager sah.»
Sein Körper war ein Wrack. Ärzte mussten ihn mehrere Monate behandeln. «Es hat viel länger gedauert, bis ich lernte, wieder zu lächeln.»