Ukrainische Parlamentarierin im Interview
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Direkt aus Charkiw:Ukrainische Parlamentarierin im Interview

Ukraine-Politikerin Mariia Mezentseva (32) berichtet aus Charkiw
«Wir hoffen jeden Abend, dass wir bis zum Morgen überleben»

Die Millionenstadt Charkiw war eines der ersten Ziele der russischen Truppen in der Ukraine. Auch einen Monat nach der Befreiung hat sich die Lage noch immer nicht stabilisiert.
Publiziert: 16.06.2022 um 16:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.06.2022 um 16:18 Uhr
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Mariia Mezentseva erzählt von der aktuellen Lage in der ukrainischen Grossstadt Charkiw.
Foto: Blick
Chiara Schlenz

Am 24. Februar überschritten die in Belgorod stationierten russischen Truppen die ukrainische Grenze und starteten so einen brutalen Angriffskrieg gegen ihr Nachbarland. Eines der ersten Ziele der russischen Bomben und Raketen: Charkiw, die zweitgrösste Stadt des Landes. Die erbitterten Kämpfe um die Metropole erstreckten sich über mehrere Monate, Dutzende zivile Ziele wurden zerstört.

Mitte Mai die Erleichterung: Russland hat den Kampf um Charkiw vorerst verloren. Mitte Juni die Gewissheit: Russland beging während der Kämpfe Kriegsverbrechen. Laut einem Bericht von Amnesty International wurden durch den wahllosen russischen Beschuss und den Einsatz von verbotener Streumunition 606 zivile Personen getötet und 1248 verletzt.

Noch jetzt, beinahe einen Monat nach der Schlacht um Charkiw, ist die Situation prekär, wie ein Gespräch mit der ukrainischen Parlamentsabgeordneten Mariia Mezentseva (32) zeigt. «Letzte Nacht wurden wir siebenmal von russischen Geschossen getroffen», sagt sie zu Blick. Die gebürtige Charkiwerin harrt noch immer in der Stadt aus – trotz Gefahr für Leib und Leben.

Angriff wurde erwartet – überraschend war er trotzdem

Als die russischen Bomben am 24. Februar zum ersten Mal auf Charkiw regneten, hielt sich Mezentseva in Kiew auf: «Meine Mutter und ich waren aufgrund der Parlamentstagungen in Kiew, als wir eine Sicherheitswarnung von ihrem Wohnblock bekamen. Wir dachten zuerst, es wird eingebrochen – doch es waren russische Bomben.» Trotzdem reiste sie zurück in ihre Heimatstadt und koordiniert dort nun den Empfang und das Verteilen von Hilfsgütern.

«Jeden Abend, wenn der Beschuss beginnt, hoffen wir, dass wir bis am Morgen überleben», fasst sie die Situation zusammen. Sicher fühle sich hier noch immer niemand. Das aktuelle Motto der Stadt: «Carpe diem», nutze den Tag. Man habe auf die harte Tour gelernt, dass auch die schlimmsten Erwartungen übertroffen werden können, dass die eigene Zukunft ungewiss ist. Das sonst lebhafte Wirtschafts- und Bildungszentrum mit beinahe zwei Millionen Einwohnern sei aktuell nichts mehr weiter als eine Geisterstadt, so Mezentseva.

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«Es gab Anzeichen, ich hätte es kommen sehen sollen. Aber so etwas erwartet man nicht, kann man sich nicht vorstellen», so Mezentseva. «Ich weiss nicht, wo ich die kommende Nacht verbringen werde, wer mit mir heute Abend noch essen wird. Auf so einen psychologischen Terror kann man sich nicht vorbereiten.»

«Putin wird zur Rechenschaft gezogen werden»

Mit Blick auf die von Russland verübten Kriegsverbrechen meint sie trocken: «Putin und seine Männer werden zur Rechenschaft gezogen und das Übel wird vernichtet werden.» Bei diesem Vorhaben sei man aber noch immer auf internationale Unterstützung – Waffen, humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Aufdecken von Kriegsverbrechen – angewiesen. So hat beispielsweise die «Zurich Insurance Group» kürzlich 207 Tonnen Nahrungsmittel und Hilfsgüter nach Charkiw geliefert. «Alles, was wir wollen, ist, dass zukünftige Generationen in Frieden leben können. Und das kann heute entschieden werden, in der Ukraine.»

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An der Standhaftigkeit und der Entschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung habe Mezentseva «keine Sekunde» gezweifelt. «In Charkiw wurde schon 2014, rund um die prorussischen Proteste während der Krimkrise, die russische Fahne gehisst und wieder abgerissen. Es bestand nie Zweifel, dass es uns auch heute gelingt.»

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