Das hat es in diesem Krieg noch nicht gegeben: Eine der Drohnen, mit denen die Ukrainer in der Nacht auf Freitag den russischen Militärflugplatz in Morozovsk angegriffen haben, hatte nebst dem Sprengsatz auch einen Lautsprecher montiert. Während des Fluges spielte die Drohne ununterbrochen das alte bretonische Soldatenlied «Was wollen wir trinken».
Ein tödlicher Spass, den sich die Drohnenpiloten da erlaubt haben. Er zeigt: Um die Moral der Truppen steht es gut. Trotzdem droht der Ukraine der baldige Kollaps. Vor allem in den Grossstädten fernab der Front breitet sich derzeit ein Gerücht aus, das in wenigen Wochen zum massiven Problem werden könnte.
Die Verzweiflung der Menschen in Kiew sei gross, erzählt Yevhen Semekjin (38), der Blick mehrfach als Militärexperte und Übersetzer in der Ukraine begleitet hat. «Die Menschen glauben, sie seien verloren. Und viele sagen: Wieso sollen wir kämpfen gehen, wenn wir ja gar keine Waffen und keine Munition mehr haben?» Die Gerüchte über faktische Himmelfahrtskommandos, auf welche die nur ungenügend ausgerüsteten Soldaten an der Front geschickt werden, verbreiteten Angst und Schrecken unter jenen, die noch nicht eingezogen worden sind.
Völlig falsch sind die Gerüchte nicht. Ohne genügend Munition und ohne Deckung durch die Artillerie sind besonders die Fusssoldaten an der ukrainischen Front den russischen Stürmen oft hilflos ausgeliefert.
Ukraine setzt auf Wagner-Trick
Die leeren Munitionsdepots sorgen also nicht nur an der Front für Probleme, wo die ukrainischen Truppen den russischen Angreifern kaum noch etwas entgegenhalten können. Sie sorgen im Hinterland für Konsternation – und machen Wolodimir Selenskis (46) Rekrutierungsplänen einen Strich durch die Rechnung.
Der ukrainische Präsident benötigt dringend frische Soldaten, um die ermüdeten Kämpfer zu entlasten. Freiwillige finden sich unter den 3,7 Millionen wehrtauglichen Männern, die noch nicht eingezogen worden sind oder das Land verlassen haben, kaum noch. Deshalb greifen ukrainische Parlamentarier jetzt auf den alten Trick der russischen Wagner-Generäle zurück: Am 13. März stellten sie einen Gesetzesentwurf vor, der bestimmten Sträflingen Haftbefreiung im Gegenzug für ein paar Monate an der Front verspricht.
Der ukrainische Geheimdienst geht davon aus, dass Russland schon im Juni eine neue Grossmobilisierung lancieren und 300'000 Männer in den Kriegsdienst nehmen könnte – zusätzlich zu den 150'000 Rekruten, die Wladimir Putin (71) gerade eben im regulären Rekrutierungszyklus aufgeboten hat.
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Putin dürfte nach seinem deutlichen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen kaum noch etwas aufhalten. Der russische Präsident ist im Hoch. Kurt Campbell (66), der amerikanische Vize-Aussenminister, sagte diese Woche bei einem Auftritt: «Russland hat sich über die vergangenen Monate militärisch fast komplett erholt.»
Ukrainische Politikerin gegen US-Hilfe
Wahrscheinlich scheint, dass die Russen im Frühling eine neue Grossoffensive auf Charkiw, die zweitgrösste Stadt der Ukraine, lancieren werden. Raketenangriffe haben in den vergangenen Tagen fast die gesamte Energie-Versorgung der Metropole zerstört.
Bei der Stadt Tschassiw Jar, westlich von Bachmut, ist den Russen in den vergangenen Tagen ein deutlicher Vorstoss gelungen. Die ukrainischen Streitkräfte haben bestimmte Bewohner der Stadt in einem offiziellen Schreiben gebeten, ihre Häuser zu verlassen, damit Soldaten sie beziehen und zu Verteidigungszwecken nutzen können.
Das Einzige, was der Ukraine jetzt helfen könnte, sei das 60-Milliarden-Dollar-Militärpaket, das von den US-Republikanern noch immer blockiert wird, sagt Blick-Übersetzer und Militärexperte Yevhen Semekjin. Auch an dieser Front sieht es aber nicht gut aus. Diese Woche hat sogar die US-Parlamentarierin Victoria Spartz (45), eine gebürtige Ukrainerin, in einem Interview mit dem «Wall Street Journal» betont, sie lehne das neue Hilfspaket ab. «Wir können uns diese ewigen Kriege nicht leisten», sagte Spartz
Kein gutes Zeichen für Selenskis Land. 88 Prozent der Ukrainer glauben laut einer Umfrage des amerikanischen International Republican Institutes zwar noch immer an den ukrainischen Sieg. Mit dem Glauben alleine aber lassen sich keine Kriege gewinnen.