Auf einen Blick
Pokrowsk? Von diesem Ort haben die meisten Schweizer wahrscheinlich nie gehört. Für viele Ukrainer im Osten ihres Landes aber ist er gleichbedeutend mit Rettung. Zehntausende flohen während der ersten beiden Kriegsjahre aus den Front-Gebieten in die 60'000-Einwohner-Stadt, die östlichste mit Bahnanschluss auf ukrainischem Territorium: Hier gab es Auffangzentren, Zugverbindungen für die Weiterreise nach Westen, Coiffeursalons und die berühmten knusprigen Hotdogs.
Seit dieser Woche aber ist in Pokrowsk die Hölle los. Die Russen marschieren schnurstracks auf die Stadt zu. Nur noch zehn Kilometer, dann sind sie da. Der Chef der Lokalverwaltung rechnet mit Strassenkämpfen im Lauf der nächsten Woche. Am Montag erhielten alle Familien mit Kindern den Evakuierungsbefehl. Die Stadt – ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für die ukrainische Armee im Kampf um den Donbass – dürfte demnächst fallen. Pokrowsk zeigt, dass sich Wolodimir Selenski (46) mit seinem jüngsten Entscheid womöglich böse verrechnet hat.
Vor zweieinhalb Wochen befahl der Präsident der Ukraine seinen Truppen den Einfall in die russische Region Kursk. Ein Überraschungsangriff. 93 Ortschaften und 1263 Quadratkilometer gegnerisches Gebiet kontrolliert die Ukraine bereits. «Proaktive Verteidigung», nennt Selenski das. Ziel sei es, eine «Pufferzone» zu errichten, damit russische Kampfjets nicht mehr so einfach die todbringenden Gleitbomben aus sicherer Distanz auf die Ukraine abwerfen könnten.
Horror-Funksprüche der Angreifer
Die bislang erfolgreiche Aktion hat diverse Nebeneffekte: Die Ukraine macht Tausende Kriegsgefangene, die man später gegen eigene Leute austauschen will. Und die eroberten Gebiete könnte man am Verhandlungstisch gegen besetzte Regionen der Ukraine austauschen. Zudem bedeutet der Angriff auf Kursk eine psychologische Niederlage für Russlands Präsident Putin und zwingt ihn, Truppen aus dem Donbass zur Verteidigung von Kursk abzuziehen.
Theoretisch.
Praktisch lässt Putin seine Truppen bislang nahezu ungebremst weiter durch den Donbass marschieren. Kursk scheint für ihn keine Priorität zu haben. Lieber krallt er sich mit Pokrowsk eine der allerletzten ukrainischen Städte im Osten. Fällt sie, ist der Donbass so gut wie verloren. Dann hat er sein deklariertes Kriegsziel erreicht.
Selenskis Kursk-Feldzug spielt Putin sogar in die Hände. Die ausgelaugten ukrainischen Truppen im Donbass müssen auf wichtige Kräfte verzichten, die neuerdings in Kursk kämpfen. «Die Situation im Donbass kollabiert deswegen», sagt der ukrainische Militär-Experte Yevhen Semekjin (39) zu Blick.
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Zwar erfülle es viele Soldaten mit Stolz, dass es der Ukraine als erster Nation überhaupt gelungen sei, einer Nuklearmacht Territorium abzugewinnen. «Viele aber sind extrem beunruhigt, weil wir täglich neue Dörfer verlieren. Und weil abgehörte Funksprüche der Russen andeuten, dass alle männlichen Zivilisten in der Region getötet werden sollen», so Semekjin.
Putin nutzt den Kursk-Angriff für Propaganda
Die Experten des Instituts für Kriegsstudien, einer US-amerikanischen Denkfabrik, verweisen darauf, dass Selenskis Kursk-Angriff Putin noch in anderem Sinn zugutekommt: Er liefert ihm neue «Beweise» dafür, dass Russland sich gegen die aggressive Ukraine verteidigen muss. Mick Ryan, ein australischer Ex-General, warnt davor, dass Putin im Donbass endgültig der Durchbruch gelingen könnte, wenn er die Rückeroberung in der Provinz Kursk auf die lange Bank schiebt. Und danach sieht es derzeit aus.
In Pokrowsk stellt man sich jedenfalls auf das Schlimmste ein. «Wir bleiben hier, bis zum bitteren Ende», schreibt die Teamleiterin eines lokalen Hilfswerks. «Aber wir alle wissen, dass für unsere Stadt das Ende sehr nahe ist …»
Selenskis Operation hat zweifellos Dynamik in den festgefahrenen Krieg gebracht. Nur, dass die tödliche Bewegung jetzt in beide Richtungen geht. Im schlimmsten Fall bringt Kursk die endgültige Wende im Krieg. Aber keine, die Selenski sich erhofft hat.