Schon am Sonntagabend tut sich in Kiew einiges. Rund um den Regierungssitz, an der St.-Michaels-Kathedrale, vor der US-Botschaft – überall in der Innenstadt werden Absperrungen aufgestellt. Das Internet wird lahmgelegt. Am Montagmorgen kurz vor zehn Uhr rauscht ein Konvoi aus 17 gepanzerten schwarzen und weissen Limousinen durch das abgeriegelte Zentrum. Eine Stunde später wird klar, wozu die Sicherheitsmassnahmen dienen: Der US-Präsident besucht überraschend seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodimir Selenski (45).
Die Reise in die Ukraine ist die erste des US-Präsidenten seit Kriegsausbruch. Sie war geheim und offenbar erst am vergangenen Freitag von Biden beschlossen worden – gegen die Bedenken seines Sicherheitsteams. Der Kreml aber sei über Bidens Treffen zur «Konfliktentspannung» informiert worden, bestätigte US-Sicherheitsberater Jake Sullivan (46) gegenüber US-Medien. Das Kalkül: Die Russen werden während der Zeit des Besuchs keine Angriffe auf die Stadt starten, um eine Eskalation mit den USA zu vermeiden.
Auf dem Weg zur Gedenkstätte heult Luftalarm auf
Um 11 Uhr schreitet Joe Biden (80) über den roten Teppich in den Marienpalast, an einer amerikanischen Flagge vorbei, die neben der blau-gelben Fahne der Ukraine im Wind flattert. Am Eingang begrüsst ihn Wolodimir Selenski (45). Die Freude ist dem ukrainischen Präsidenten anzusehen. Dass der mächtigste Verbündete trotz des hohen Sicherheitsrisikos und nur vier Tage vor dem ersten Jahrestag der russischen Invasion Kiew besucht, ist historisch und von hohem symbolischem Wert.
Selenski führt Joe Biden zur Gedenktafel für die seit 2014 gefallenen ukrainischen Soldaten. Auf dem Weg zum Michaelsplatz heult Luftalarm auf. Ungeachtet dessen marschiert die Delegation weiter durch die Innenstadt. An der Gedenkstätte nimmt der US-Präsident den ukrainischen Amtskollegen väterlich in die Arme. «Wir stehen hier zusammen», sagt Biden seinem Gastgeber und verspricht unerschütterliche Unterstützung. «Solange das Kämpfen nötig ist, so lange werden wir an Ihrer Seite sein, Herr Präsident.» Freiheit habe keinen Preis. Putin sei gescheitert. Weder sei die Ukraine schwach, noch der Westen gespalten.
Neue Waffenlieferungen für halbe Milliarde US-Dollar
Joe Biden verspricht neue Waffenlieferungen in Höhe von 500 Millionen US-Dollar. Darunter sind nicht nur Artilleriemunition, Panzerabwehr und Radarsysteme, sondern offenbar auch Raketen mit bis zu 150 Kilometern Reichweite. Damit beläuft sich die militärische Hilfe der Vereinigten Staaten an die Ukraine seit Kriegsbeginn auf über 30 Milliarden US-Dollar. Zudem hofft Selenski auf Kampfjets, die die Europäer ihm bislang verwehren. Das Kalkül: Liefern die Amerikaner Kampfjets, werden die anderen Nato-Partner folgen, wie die Kampfpanzer-Debatte zeigte.
Der Überraschungsbesuch von Joe Biden in Kiew stiehlt Wladimir Putin die Show. Der Kreml-Chef will zum Jahrestag der sogenannten militärischen Spezialoperation eine Rede ans Volk halten. Jetzt ist ihm der US-Präsident medienwirksam zuvorgekommen. Bidens freies Geleit in die Ukraine empört derweil prorussische Blogger. So moniert beispielsweise der Militärveteran Igor Girkin (52), der «Grossvater» hätte auch an die Front in Bachmut reisen können, es wäre ihm nichts passiert. Für den russischen Journalisten Sergey Mardan (53) ist der Besuch von Joe Biden eine «demonstrative Demütigung Russlands» und Telegram-Blogger Zapiski Michmana Ptichkina spottet: «Nun hat der US-Präsident noch vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Kiew erreicht.»
Das Treffen in der Ukraine ist nicht nur eine Ansage an den Kreml. Es sei auch eine unmissverständliche Botschaft an Peking, so ZDF-Korrespondent Elmar Thevessen (55): «Sollte China militärische Ausrüstung oder gar Waffen an Russland liefern, werden die USA mit aller Schärfe antworten. Washington hält ein umfangreiches Sanktionspaket bereit, das die chinesische Wirtschaft schwer treffen würde.»