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Sturz der Regierung?
«Man darf den Faktor X nicht ausser Acht lassen»

Die Proteste im Iran eskalieren. Das Regime hat immer mehr Mühe, die Aufstände zu unterdrücken. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Publiziert: 06.10.2022 um 00:26 Uhr
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Aktualisiert: 06.10.2022 um 13:32 Uhr
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Eins der jüngsten Bilder: Iranische Gymnasiastinnen, teils ohne Schleier, werfen Gegenstände auf einen Mann und schreien: «Tod dem Diktator!»
Foto: AFP
Tanja von Arx

Auch nach Wochen lassen die Proteste im Iran nicht nach. Im Gegenteil: Sie werden stärker. Zuletzt hat der Tod von zwei jungen, demonstrierenden Frauen für Empörung gesorgt, jener der 16-jährigen Sarina E.* und der 17-jährigen Nika S.*. Es war nicht das einzige Mal, als die Situation eskalierte. Verschiedene Organisationen zählen bislang über 130 Tote, Hunderte Verletzte und Tausende Verhaftete. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.

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Ist ein Sturz des Regimes möglich?

Hamid Hosravi, wissenschaftlicher Angestellter am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich, sagt: «Man darf den Faktor X nicht ausser Acht lassen.» Ein unvorhergesehenes Ereignis könne die Masse so bewegen, dass es für das Regime keine Chance mehr gäbe – wie etwa bei Gaddafi in Libyen. Doch: «Aufgrund der Machtverhältnisse ist ein Sturz des Regimes nicht möglich, denn es hat noch Mittel für Repressalien.» Ausserdem hätten Europa und die USA wegen der weltpolitischen Lage «kein ernst zu nehmendes Interesse», die Protestbewegung aktiv zu unterstützen. «Und wegen des bevorstehenden Atomdeals wird der Iran vermutlich die eingefrorenen Gelder zurückbekommen, die dann direkt in die Unterdrückungsmaschinerie fliessen.» Nicht zuletzt wisse der herrschende schiitische Klerus im Iran, dass ein Sturz des Regimes seinen endgültigen Untergang bedeuten würde.

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Hat das iranische Regime Mühe, die Proteste unter Kontrolle zu halten?

«Ja», meint Hosravi. Dies, weil die Proteste im ganzen Land gleichzeitig passiert und ausgedehnt gewesen seien. «Das macht die Kontrolle sehr schwierig.» Früher habe man die Schlagtruppen von einer Stadt zur anderen schicken können, jetzt sei das nicht mehr möglich. «Temporär kann es dem Regime vielleicht gelingen, die Proteste zu kontrollieren, aber bei der nächsten Gelegenheit werden diese wieder ausbrechen.»

Was war Auslöser der Demos?

Der gewaltsame Tod von Mahsa Amini (22) durch die Polizei. Amini wurde Mitte September von der Sittenpolizei festgenommen, weil sie ihr Kopftuch angeblich «unangemessen» getragen hatte. Was genau mit ihr danach geschah, ist unklar. Die Frau fiel ins Koma und starb am 16. September in einem Spital. Zahlreiche Frauen demonstrierten daraufhin. Es ging ihnen darum, die Sittenpolizei abzuschaffen – und die Kopftuchpflicht als Zeichen der Unterdrückung.

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Wer protestiert noch?

Nachdem sich die Demonstrationen zunächst auf Frauen beschränkten, die öffentlich ihre Kopftücher ablegten, diese verbrannten und in grossen Gruppen durch die Strassen zogen, hat sich die Bewegung inzwischen ausgeweitet. Seit gut zwei Wochen ist eine Protestwelle zu beobachten, die Iran-Experten als jene mit der grössten sozialen Basis seit rund vierzig Jahren betrachten. An den Demonstrationen nehmen Angehörige aller sozialen Schichten und ethnischen Gruppen teil. Der Protest eint Arm und Reich. Dies im Willen, das undemokratische Regime zu stürzen. Es geht nicht mehr nur um Frauenrechte, sondern um das ganze System. Und jetzt beziehen auch die Promis Stellung. So etwa der Fussballstar und ehemalige deutsche Nati-Spieler Ali Karimi, der über Social Media mit gut zwölf Millionen Anhängern das Regime angreift. Ausserdem gehen Frauen aus Solidarität auf der ganzen Welt auf die Strassen, so in Italien, Deutschland und auch der Schweiz.

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Was unternimmt das Regime dagegen?

Staatspräsident Ebrahim Raisi telefonierte zunächst mit den Eltern von Mahsa Amini. Für den obersten Führer des Landes, Ali Chamenei, sind die Proteste allerdings eine Verschwörungsoperation gegen den Iran. Wie zudem in Diktaturen üblich, reagiert die Regierung mit roher Gewalt gegen die Proteste: Sie lässt in Menschenmengen schiessen, lässt knüppelnde Beamte auffahren und setzt den Geheimdienst ein, der sich unter Oppositionelle mischen soll. Das Internet ist blockiert, um die Demonstrationen über Social Media und die Weitergabe von Informationen ins Ausland zu verhindern. Fotos und Videos gelangen aber dennoch ins Netz. Sie zeigen, dass die Aufstände weitergehen.

Ist die iranische Gesellschaft viel moderner als ihre Führung?

«Zweifelsohne», sagt Iran-Experte Hosravi. Man merke an den Parolen der Demonstrierenden, dass sie ein Land wollen, in dem Menschen «ihre Meinung frei äussern könnten, ihre Kleidung selbst auswählen und friedlich untereinander sowie mit anderen Menschen in der Welt leben». Etwa sechzig Prozent der Iranerinnen und Iraner seien unter 25. «Sie haben über soziale Medien Zugriff auf eine moderne, freiheitliche Welt, stehen im Austausch mit jungen Menschen in anderen Ländern und fühlen sich durch die iranische Regierung überhaupt nicht vertreten.»

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Welche Rechte haben iranische Frauen?

Als der konservative Ebrahim Raisi an die Macht kam, wurde die Sittenpolizei aktiv. Der Staatspräsident hat sie ermutigt, mit Härte gegen Frauen vorzugehen. Verglichen mit anderen Ländern im Nahen Osten haben iranische Frauen allerdings mehr Rechte als andere. Sie dürfen Auto fahren, belegen sechzig Prozent der Studienplätze und haben im Familienalltag eine gute Stellung. Im Berufsalltag bekleiden sie aber kaum hohe Positionen. Sollten sie sich ausserdem scheiden lassen, sind sie sehr durch das Gesetz benachteiligt.

Sind Sanktionen seitens der EU und anderer westlicher Länder gegen den Iran möglich wegen der Gewalt an Frauen? Und hätten sie den gewünschten Effekt?

Hamid Hosravi sagt: «Ich glaube schon.» Aber die Sanktionen müssten gezielt gegen die Akteure der Staatsklasse gerichtet sein. «Zum Beispiel müssen Möglichkeiten geschaffen werden, den Internetzugang im Iran trotz der Drosselung zu sichern.» Die Angehörigen vieler iranischer Politiker und islamischer Religionsgelehrter würden im Westen leben. «Ich denke, es wäre ein herber Schlag für das iranische Regime, wenn diese in ihrer Reisefreiheit und im Geldtransfer eingeschränkt würden.» Da iranische Institutionen, darunter Universitäten, in den Händen von Hardlinern seien, sollte es auch vermieden werden, iranische Dozenten in den Westen einzuladen und ihnen so eine Plattform zu bieten.

* Namen der Redaktion bekannt

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