Blick: In der Ostsee wurden vier Lecks in den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 entdeckt. Wie wurden die Lecks, Ihrer Meinung nach, verursacht?
Ralph Thiele: Sie sind offensichtlich ein Akt von militärischer oder privater Gewalt. Seismologische Messungen haben ganz klar Beben ausgeschlossen. Also haben Explosionen stattgefunden im Inneren der Pipelines oder von aussen. Höchstwahrscheinlich waren Kampfschwimmer am Werk, die über U-Boote, Schiffe oder aus der Luft an den Pipelines abgesetzt wurden. Es könnten auch unbemannte Mini-U-Boote den Sprengstoff angebracht haben.
Wie hoch sind die Schäden?
Sie sind erheblich. Wenn Wasser in die Rohre dringt, kommt es zur Korrosion des Materials. Das könnte dazu führen, dass der Schaden sogar irreparabel ist und die Pipelines nie wieder benutzt werden können.
Handelt es sich hier um einen lang und gut geplanten Sabotage-Akt?
Nicht unbedingt. Die Kampfschwimmer sind darauf trainiert, solche Aktionen schnell und zielgerichtet durchzuführen.
Wer verfügt über derartige Spezialisten und Technologien?
Natürlich das Militär, aber auch die Privatwirtschaft, die mit dem Bau und Wartung der Pipelines zu tun hat. Die eingesetzten Kampfschwimmer könnten Soldaten sein, aber eben auch Ex-Soldaten, die für die Privatwirtschaft arbeiten.
In den Tagen vor den Anschlägen wurden russische Schiffe und U-Boote nahe der Pipelines gesichtet. Steckt Wladimir Putin hinter der Sabotage?
Die Ostsee ist eine Badewanne. Dort halten sich Kriegsschiffe verschiedener Nationen auf, auch aus den USA, sowie viele internationale Handelsschiffe. Das ist nichts Ungewöhnliches. Das Fehlen von Gas und Strom sind für die europäische Wirtschaft verheerend. Putin wäre dämlich, diese Schwäche nicht für sich zu nutzen. Mir fällt es schwer zu glauben, dass Wladimir Putin mit der Zerstörung seiner Pipelines auf ein so kostbares Erpressungsinstrument verzichten würde. Es wäre eine Selbstverstümmelung.
Also Wladimir Putin war es auf keinen Fall?
Es gäbe noch eine andere Strategie, die Putin mit solchen Anschlägen verfolgen könnte. Die sogenannte «False Flag»-Strategie. Er zerstört seine Pipelines, um zu demonstrieren, dass er es nicht gewesen sein kann. Dann greift er andere Pipelines an, zum Beispiel in Norwegen. Das wäre geradezu perfide. Solange keine weiteren Angriffe folgen, glaube ich jedoch nicht, dass es Putin war.
Wenn es Putin nicht war, wer dann?
Wer die Lage klug betrachtet, dem kommen unzählige mögliche Akteure in den Sinn. Beispielsweise alle jene Staaten, die in der Vergangenheit aggressiv versucht haben, Nord-Stream 2 zu verhindern. Darunter sind neben der Ukraine, Polen, den baltischen Staaten natürlich auch die USA. Seit der Ukraine-Krise steigt der aus Fracking gewonnene Schiefergas-Absatz. Es gibt zudem Private, die ein Interesse daran haben könnten, auf diese Weise die Gaspreise hochzutreiben. Selbst der Iran ist als Akteur nicht gänzlich auszuschliessen. Der Staat könnte mit solchen Manövern von der innenpolitischen Krise ablenken wollen. In diesen hybriden Kriegsformen nutzen die Staaten auch gerne Stellvertreter, beispielsweise aus der Privatwirtschaft, um Angriffe durchzuführen.
Wird man die Schuldigen finden?
Ich bin zu 90 Prozent davon überzeugt, dass die Verantwortlichen für diese Anschläge nie ermittelt werden. Vielleicht findet man, wenn Untersuchungen dann in einigen Wochen möglich sind, materielle Spuren nahe den Lecks. Doch ob man diese dann eindeutig beispielsweise einem Staat zuordnen kann, möchte ich bezweifeln. Zum Beispiel, stösst man auf Sprengstoff-Teile russischer Herkunft, könnten diese durchaus auch aus der Ukraine stammen. Vielleicht wird es möglich sein, zu klären, ob generell ein Staat hinter den Sprengungen steckt oder private Akteure.
Sind auch andere Unterwasser-Infrastrukturen gefährdet?
Selbstverständlich. Unsere ganze Hochgeschwindigkeitskommunikation läuft über Seekabel durch Nordsee, Ostsee und Atlantik. Diese Strukturen sind sehr leicht anzugreifen.
Wie kann man sich gegen weitere Anschläge schützen?
Durch Künstliche Intelligenz also KI, Sensoren und Drohnen. Mit KI wird vermessen, über die Sensoren findet die Überwachung statt und Drohnen kann man dann gegen Angreifer einsetzen.