Der Tatort: Bornholm, Dänemark. Drei Explosionen, die beiden Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 sind beschädigt. Die Täterschaft: unbekannt. Was ist am Dienstag bloss vorgefallen?
Diese Frage stellt sich aktuell die ganze Welt – auf eine einheitliche Lösung ist man noch nicht gekommen. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zum Gasleck in der Ostsee.
Was ist passiert?
In der Nacht auf Montag meldete Nord Stream 2 Druckprobleme, eine Messstation registrierte rapide fallende Werte. Die dänischen Behörden konnten ein Leck südöstlich der Insel Bornholm identifizieren. Kurz darauf meldete auch ihre ältere Schwester Nord Stream 1 einen Druckabfall.
Entdeckt wurde das Leck laut «Jyllands-Posten» von dänischen F-16-Kampfjets – die grossen Blasen fielen sofort auf. Ein Erdbeben als Ursache kann ausgeschlossen werden, so Fachpersonen. Da die Pipelines auf grosser Länge aufgerissen wurden, ist ein Sabotageakt nicht ausgeschlossen.
Am Donnerstagmorgen folgte dann die Nachricht der schwedischen Küstenwache, dass ein viertes Leck an der Nord Stream 2 entdeckt wurde. Der Riss soll sich über 200 Meter Länge an der Pipeline erstrecken. «Zwei dieser vier Löcher befinden sich in der ausschliesslichen Wirtschaftszone Schwedens», sagte Jenny Larsson, Sprecherin der Küstenwache, der Zeitung «Svenska Dagbladet».
Wie gefährlich ist das?
Für Menschen besteht laut Roland Gysin (57) von Greenpeace Schweiz aktuell keine unmittelbare Gefahr. Prekär sei die Situation allerdings für das Klima. «Das ausgetretene Methan ist besonders klimaschädlich», sagt er zu Blick. Nach Angaben der dänischen Energiebehörde ist bereits mehr als die Hälfte des Gases aus den betroffenen Leitungen entwichen. Nach Berechnungen der Behörde entspricht die Klimabelastung des Gasaustritts etwa einem Drittel der gesamten Klimabelastung Dänemarks in einem Jahr.
Während Methan nicht wasserlöslich ist, haben die Explosionen lokal zu Problemen für Flora und Fauna gesorgt. «Fische und Schweinswale, die sich zum Zeitpunkt der Explosionen in unmittelbarer Umgebung von den Pipelines aufgehalten haben, haben die Druckwelle kaum überlebt.»
Für Schiffe ist es aber direkt über den Gaslecks gefährlich. Es bestehe Entzündungsgefahr, so dänische Behörden. Die dänische Schifffahrtsbehörde hat für den Schiffsverkehr entsprechende Sperrzonen eingerichtet.
Welchen Einfluss hat das auf die Gasmangellage?
Wie der «Spiegel» schreibt, befanden sich zum Zeitpunkt der Explosionen Hunderte Millionen Kubikmeter Gas in den Pipelines – Berechnungen zufolge rund 135 Millionen Kubikmeter im Leck geschlagenen Strang von Nord Stream 2 und jeweils geschätzte 190 Millionen Kubikmeter in den beiden betroffenen Strängen von Nord Stream 1. Insgesamt geht es also um gut 500 Millionen Kubikmeter Erdgas. Und laut aktuellem Marktwert um 800 Millionen Euro.
Kurzfristig wird das Leck die europäische Gasversorgung allerdings nicht beeinflussen, so das Magazin. Schon vor Wochen hat Gazprom alle Gasflüsse durch Nord Stream 1 gestoppt, Nord Stream 2 wurde zwar gefüllt, doch geliefert wurde nie. Ob das Gas für den Endverbraucher durch das Leck noch teurer wird, ist ebenfalls noch nicht klar.
Wem gehört das Gas?
Laut «Spiegel»-Angaben gehört das Gas in den Pipelines den Betreibern selbst, also der Nord Stream 2 AG mit Sitz in Zug, deren Anteilseigner zu 100 Prozent der russische Monopolist Gazprom ist. Allerdings ging Nord Stream 2 AG pleite und hat all seine Mitarbeitenden entlassen. Konkurs wurde aber nicht angemeldet. Die Gaslecks könnten nun das endgültige Aus für die Nord Stream 2 AG bedeuten.
Wer steckt hinter den Explosionen?
Internationale Experten gehen von einem Sabotageakt aus, bei dem nur ein staatlicher Akteur infrage kommt. Polen schliesst nicht aus, dass Russland für die Lecks verantwortlich ist.
Die Ukraine wurde noch deutlicher: «Das grossflächige ‹Gasleck› an Nord Stream 1 ist nichts anderes als ein von Russland geplanter Terroranschlag und ein Akt der Aggression gegenüber der EU», schrieb der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak (50) auf Twitter.
Allerdings stellt sich hier die Frage: Welches Interesse hat Russland, die Pipelines zu zerstören? Denn die Erpressung mit dem Gas ist Wladimir Putins (69) einzige Chance, gegen die westlichen Sanktionen anzukämpfen.
Auch das beschuldigte Russland selbst vermutet hinter den kaputten Pipelines Sabotage – und zwar von den USA. «Nur die USA haben wirtschaftliche Interessen daran», schreibt «Iswestija». Auch der ehemalige polnische Verteidigungsminister, Radek Sikorski (59), scheint dieses Narrativ plausibel zu finden. Am Dienstag twitterte er ein Bild des Gaslecks mit der Überschrift «Danke, USA».
Eine Aussage des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden (79) vom Februar sorgt in diesem Zusammenhang für Stirnrunzeln. Er versprach bereits am 7. Februar, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu verhindern, falls Russland in die Ukraine einmarschiert. «Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert», sagte Biden, «dann wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.» Als eine Reporterin nachhakt und fragt, wie genau denn die USA dies bewerkstelligen wollen, antwortet Biden nur vage: «Glauben Sie mir, wir würden einen Weg finden.»
Sobald gar kein Gas mehr aus Russland kommt, wäre Europa in Sachen Gas komplett von den USA abhängig. Darin sehen Kritiker ein mögliches Motiv Bidens.
Zu betonen ist allerdings: Keine dieser Theorien konnte bisher bestätigt oder dementiert werden. Und auch was für den Vorfall verantwortlich ist, kann erst zu einem späteren Zeitpunkt geklärt werden, da aktuell noch zu viel Gas austritt. Schweden kündigte am Mittwochabend an, Investigationen zu beginnen.
War die Sabotage vorhersehbar?
Nach Angaben von «Spiegel» haben die USA bereits vor Wochen die deutsche Bundesregierung vor möglichen Anschlägen auf Gaspipelines in der Ostsee gewarnt. Auch das schürt die Gerüchte um die Rolle der USA in der Sache.
Bereits im Juni berichtete der U-Boot- und Militärexperte H I Sutton* auf Twitter von russischen U-Booten, die sich nahe der Insel Bornholm aufgehalten haben. Damals kursierten zudem Berichte darüber, dass die russische Marine dänische Hoheitsgewässer verletzt habe. Ob ein Zusammenhang zwischen dem damaligen Vorfall und den Lecks besteht, ist allerdings nicht belegt.
Wie konnten die Pipelines sabotiert werden?
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein Saboteur den Anschlag ausgeführt haben könnte. Der dänische Militärwissenschaftler Anders Puck Nielsen sagte gegenüber «The Sun»: «Technisch gesehen ist das nicht schwierig. Es erfordert nur ein Boot und einige Taucher, die wissen, wie man mit Sprengkörpern umgeht.»
Kenneth Øhlenschlæger Buhl vom Departement für Strategie und Kriegswissenschaften an der dänischen Verteidigungsakademie hat laut «Bild» noch eine andere Theorie: Unterwasserdrohnen. «Solche Drohnen werden ferngesteuert. Sie steigen ab und orten ganz genau, wo sich die Leitungen befinden. Anschliessend platzieren sie eine Bombe darauf oder daneben, verschwinden und dann BUMM!»
Weiter berichtet «Bild» von der 561. Marinebrigade des russischen Militärgeheimdienstes GRU, die in Parusnoye in der russischen Exklave Kaliningrad stationiert ist. Diese ist eine spezialisierte Unterwasser-Sabotageeinheit – also ein weiterer Hinweis auf die russische Schuld an den Lecks?
Welche Konsequenzen drohen dem Saboteur?
Am späten Abend sprach die dänische Regierung von «absichtlichen Taten», Schweden von «Sabotage». Schweden wolle «militärische Ressourcen» bereithalten.
«Alle verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass diese Lecks das Ergebnis einer vorsätzlichen Handlung sind», erklärte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell (75) am Mittwoch im Namen der 27 Mitgliedstaaten. Jede vorsätzliche Störung der europäischen Energieinfrastruktur werde «mit einer robusten und gemeinsamen Reaktion beantwortet werden».
Bereits am Dienstagabend äusserte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (63) zu der möglichen Sabotage. Auf Twitter hielt sie fest: «Jede absichtliche Störung von aktiver europäischer Energieinfrastruktur ist inakzeptabel und wird zu der stärksten möglichen Reaktion führen.» Die Kommissionspräsidentin schlug zudem vor, neue Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
* So nennt sich der Experte selbst, sein richtiger Name ist nicht bekannt