Stechmücken-Theorie, Friedensplan-Schummelei und Mord-Vorwürfe
Darum ist die Kriegspropaganda gerade jetzt so gefährlich

Kein Krieg ohne Propaganda: Lügen und absurde Gerüchte gehören seit jeher zu bewaffneten Konflikten. Drei Beispiele zeigen, wie Moskau und Kiew sich bei der laufenden Gegenoffensive gegenseitig verwirren wollen.
Publiziert: 21.06.2023 um 18:30 Uhr
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Die Schlachten in der Ukraine werden täglich intensiver.
Foto: AFP
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Befreite Dörfer, gefallene Soldaten, explodierende Panzer: Die ukrainische Gegenoffensive ist in vollem Gang. Und auch der Propaganda-Krieg läuft wieder auf Hochtouren.

Kein Wunder. Verwirrspiele mit Falschinformationen seien ein wichtiger Bestandteil der Kriegsführung, schreibt Kriegsexperte Mike Martin vom Londoner King’s College in seinem neuen Buch «How to Fight a War». Das Ziel jeder Propaganda-Aktion sei es, die Moral der eigenen Truppen zu stärken und den Gegner einzuschüchtern. Das Problem dabei: Viele der Informationen schwappen aus dem militärischen Raum in die zivile Öffentlichkeit über und sorgen bei uns allen für Verwirrung. Wem zum Teufel soll man da noch glauben?

Verstärkt wird das Problem von den Heerscharen an Youtubern und Social-Media-Aktivisten, die sich in den Dienst der Kriegsparteien stellen und sich genüsslich in die Informationsköder verbeissen, die die militärischen Kommandos in Kiew und Moskau tagtäglich auswerfen.

Drei brandaktuelle Beispiele zeigen, wie die Propaganda-Gegenoffensive funktioniert:

1

Die Stechmücken-Verschwörung um den Kachowka-Staudamm

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist die bislang grösste Öko-Katastrophe in diesem Krieg. Die Russen behaupten, die Ukrainer hätten den Damm mit Präzisionsraketen zerstört, um die Wasserversorgung der Halbinsel Krim zu kappen. Zudem behauptet ein Kreml-General, im überfluteten Gebiet würden sich jetzt Stechmücken ausbreiten, die dann von amerikanischen Drohnen direkt zu den russischen Truppen geflogen werden und dort Krankheiten wie Malaria und das West-Nil-Virus verbreiteten.

Humbug, sagen die Ukrainer. Sie betonen (gestützt von internationalen Experten), die russischen Besatzer hätten den Damm gesprengt, um einen ukrainischen Vorstoss auf die besetzten Gebiete östlich der Stadt Cherson zu verhindern.

2

Putins Friedensplan-Schummelei

Beim Besuch der afrikanischen Friedensmission vergangene Woche hielt Russlands Präsident Wladimir Putin (70) den Entwurf eines «Friedensplans» in die Kameras. Diesen Friedensplan habe man den Ukrainern 2022 vorgelegt. Die Ukrainer aber hätten ihn «in den Abfallkübel der Geschichte» geworfen, wie so vieles.

Putin, der friedliebende Diplomat? Das ist reine Fassade. Der Kreml-Herrscher verschweigt, dass die Ukraine die Friedensverhandlungen damals abgebrochen hatte, als die russischen Gräueltaten in Butscha und Borodjanka zum Vorschein kamen. Er verschweigt, dass die russischen Forderungen im Vertrag (so sollte die Ukraine nur noch 342 Panzer und 85'000 Soldaten haben dürfen) völlig lächerlich sind. Und natürlich verschweigt er auch, dass die russische Regierung bereits 1994 in den Budapester Verträgen die Ukraine im Gegenzug für die Aufgabe von Kiews Atom-Arsenal als souveränen Staat anerkannt hat, den Russland niemals angreifen werde.

3

Die Mord-Vorwürfe im Kriegsgraben

Am Montag tauchte auf der Plattform Telegram ein anderthalbminütiges Helmkamera-Video auf. Es zeigt, wie ukrainische Soldaten einen Graben im Süden der Ukraine stürmen und vier Russen (drei unbewaffnete, einen bewaffneten) erschiessen. «Gebt auf, dann werdet ihr leben! Kommt raus, mit erhobenen Händen!», ruft der Kamera-Träger. Dann bricht das Video ab.

Der pro-ukrainische Telegram-Kanal «spook’s telegram» feierte den Angriff als «erfolgreiche Operation» der ukrainischen Spezialeinheiten und machte sich lustig über die gefallenen Russen («Wofür habt ihr eigentlich trainiert?»). Die einstige US-Navy-Soldatin Sarah Bils (37), die als «Donbass Devushka» prorussische Propaganda verbreitet, nimmt das Video hingegen als Beweis für ukrainische Kriegsverbrechen: «Ganz normal für die Ukraine: Die Soldaten der 73. Brigade ermorden unbewaffnete russische Soldaten, die sich ergeben wollten.»

Das vorläufige Fazit: Beide Seiten sorgen für mächtigen Propaganda-Wirbel. Kriegsforscher Mike Martin schreibt dazu in seinem Buch: «Menschen brauchen Sicherheit, ganz besonders Soldaten. Wenn man ihnen die Sicherheit (durch Desinformationskampagnen) raubt, kriegen sie Stress und werden ineffizient.» Gemessen am offenkundigen Selbstbewusstsein der ukrainischen Truppen und an den standhaften russischen Aggressoren ist das noch nicht passiert. Die Propaganda-Angriffe haben ihr Hauptziel bislang verfehlt.

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