Dunkle Wolken ziehen über die «Grosse Halle des Volkes». In Peking beginnt heute der einwöchige 14. Nationale Volkskongress. Knapp 3000 Delegierte pilgerten in Chinas verregnete Hauptstadt. Im Saal wird dennoch gut Wetter gemacht. Ministerpräsident Li Qiang (64) berichtet von der Wirtschaftsentwicklung des vergangenen Jahres und steckt das Wachstumsziel für 2024 ab.
Es sind sonnige Zahlen. So sei das Bruttoinlandprodukt 2023 um 5,2 Prozent zum Vorjahresquartal gestiegen. Auch fürs laufende Jahr erwartet Li Qiang ein Plus von fünf Prozent. Die Zahlen seien wohl etwas optimistisch, sagen die Skeptiker. Einer von ihnen ist Logan Wright, Marktforscher und Direktor der New Yorker Rhodium Group. Er vermutet, dass Chinas reales Wachstum 2023 bei lediglich zwei bis drei Prozent lag. Das Reich der Mitte hat noch immer mit grossen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Blick hat die grössten Baustellen der asiatischen Supermacht zusammengetragen.
China hat viel Vertrauen bei westlichen Handelspartnern verloren
Die Zeit der rigorosen Corona-Lockdowns, die den Welthandel ausbremsten, sind zwar seit einem Jahr vorbei, doch China leidet an einem wirtschaftlichen Long Covid. Handelsbeschränkungen, vor allem mit den USA, geopolitische Spannungen und ein sinkendes Vertrauen globaler Wirtschaftspartner in Chinas Zuverlässigkeit erschweren den Welthandel. Xi Jinping (70) will westliche Demokratien schwächen, provoziert mit seiner Freundschaft zu Putin und liebäugelt offen selber mit der Invasion von Taiwan. Den demokratischen Inselstaat betrachtet Chinas Alleinherrscher als «abtrünnige Provinz». Das alarmiert Europa und die Vereinigten Staaten. Trotz aller Feindseligkeiten ist China aber nach wie vor auf den Handel mit dem Westen angewiesen.
Chinas Exporte brachen Mitte 2023 zum Vorjahr um 15 Prozent, Importe um zwölf Prozent ein. Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen gingen 2023 um acht Prozent zurück. Währenddessen üben westliche Staaten das sogenannten De-Risking. Sie wollen sich aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China winden und schauen sich nach anderen wirtschaftlich wachsenden Partnern um. Eine Umfrage der Handelskammer der Europäischen Union ergab, dass zehn Prozent der befragten 570 Mitglieder, sich bereits aus China zurückgezogen haben und 20 Prozent dieses planen. Asiatische Staaten wie Indonesien (2023: plus 5,05 Prozent), Vietnam (2023: plus 5,05) und Indien (2023: plus 6,1 Prozent) konkurrieren zunehmend im Rohstoffhandel, in der Textil- und Elektronikherstellung mit China.
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Immobilienkrise zieht Banken in Mitleidenschaft
Zu Hause lähmen Immobilienkrise und Börsenflaute sowie die sinkende Binnennachfrage das ersehnte Wachstum. Mitte August ging Chinas zweitgrösster Baukonzern, die Evergrande Group, mit umgerechnet über 300 Milliarden Franken Pleite. Auf den Fuss folgten zwei weitere börsennotierte Immobilienriesen, Country Garden und China State Construction, mit je über 250 Milliarden Franken Schulden. Neun der zehn höchstverschuldeten Unternehmen Chinas sind Baukonzerne.
Die bröckelnde Immobilienbranche ziehe dabei viele der 4000 Banken in Mitleidenschaft, sagt Chefökonomin Wang Dan von der Hang Seng Bank China, da ihre Aussenstände meist mit Immobilien oder Anleihen der ebenfalls hoch verschuldeten Lokalregierungen verbunden seien. So musste beispielsweise eines der führenden Finanzunternehmen, die Schattenbank Zhongzhi Enterprise Group, Anfang Januar Insolvenz anmelden. Das alles belastet auch den Aktienmarkt. Vor drei Wochen fiel der Aktienindex CSI 3000, der die Kursentwicklung an den beiden grössten Börsen Festland-Chinas, Shanghai und Shenzhen, anzeigt, auf ein Fünfjahrestief.
Jugendarbeitslosigkeit auf Rekordhoch
Die Krise schwächt die Konjunktur. Die Produktion ist im Februar den fünften Monat in Folge zurückgegangen, berichtet die nationale Statistikbehörde. Arbeitsplätze werden abgebaut, Saläre gekürzt. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht mit knapp 16 Prozent ein Rekordhoch. Das drückt auf die Konsumlaune der Bevölkerung. Stockt die Binnennachfrage, dann drohen weitere Produktionseinbrüche, weiterer Stellenabbau. Die Menschen geben noch weniger Geld aus. Ein Teufelskreis.
Deflation schwingt wie ein Damoklesschwert über der Volkswirtschaft. Im Januar 2024 fielen die Preise um 0,8 Prozent zum Vorjahr. Es ist der stärkste Rückgang seit 15 Jahren. Verstärkt wird der Trend durch eine Bevölkerung, die stark schrumpft und ergraut. 2023 ging die Bevölkerungszahl um zwei Millionen Menschen zurück. Jeder fünfte Chinese ist schon heute über 60 Jahre alt.
«Wirtschaft ist wie das Wetter»
Bedeutsame Konjunkturspritzen werden am ersten Tag des laufenden Volkskongresses nicht versprochen. Stattdessen will China in Hochtechnologie investieren. Halbleiterindustrie, Umwelttechnologien, Elektroautos und Industrieroboter sollen künftig staatlich gefördert werden und das neue Fundament der chinesischen Wirtschaft bilden.
Ministerpräsident Li Qiang, der erst vor einem Jahr sein Amt antrat, gibt die schweren Zeiten in seiner einstündigen Rede zu. Doch er glaubt an seine Prognosen. Li vergleicht die Wirtschaftskurven mit dem Wetter. Seine erste Auslandsreise führte ihn im Juni 2023 nach Berlin. Vor den dort versammelten Wirtschaftsführern erklärte der Chinese: «Wenn es stark regnet, dürfen wir den Kopf nicht hängenlassen. Wenn die Zeit kommt, sehen wir den Regenbogen.» Die Konjunktur habe wie das Wetter naturgemäss ihren Zyklus, so auch in China.