«Gefängnis ist für viele schlimmer als Krieg»
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Russische Blick-Journalistin:«Gefängnis ist für viele schlimmer als Krieg»

«Sie werden alle sterben»
So schätzen erfahrene Soldaten die Chancen der mobilisierten Russen ein

Schlecht ausgerüstet und unvorbereitet sollen Tausende mobilisierte Männer in Russland in den Ukraine-Krieg ziehen. Söldner und Vertragssoldaten, die schon dort waren, sehen für sie schwarz.
Publiziert: 30.09.2022 um 00:19 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2022 um 08:06 Uhr
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In Russland ist die Mobilisierung im Gange. Teilweise werden unerfahrene Männer eingezogen.
Foto: keystone-sda.ch
Anastasia Mamonova

Seit einer Woche dauert die von Wladimir Putin (69) ausgerufene Teil-Mobilisierung in Russland an. Die einen versuchen, das Land zu verlassen. Die anderen ziehen resigniert in den Kampf.

«Viele Leute fühlen sich bei uns machtlos. Sie sagen, sie wollen nicht in den Krieg, aber was sollen sie denn sonst tun, wenn sie den Marschbefehl bekommen», sagt Tatjana R.* (36) aus dem Norden von Russland zu Blick. Sie würden resignieren und sich ihrem Schicksal fügen. Zudem haben sie Angst, bei Verweigerung ins Gefängnis zu kommen.

Andere wiederum versuchen, sich einzureden, das Richtige zu tun. «Wenn die Heimat ruft, dann muss man folgen», sagen sie sich. «Ich frage mich, woher diese Idee kommt, dass sie ihrem Vaterland etwas schuldig sind», sagt Renata A.* (40) zu Blick.

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Gleiche Lieder wie im Zweiten Weltkrieg

An den Besammlungsstellen, wo sich die Männer von ihren Familien verabschieden, bevor sie in den Bus steigen, laufen Lieder, die bereits beim Abschied im Zweiten Weltkrieg gespielt wurden. Der Kreml versucht mit allen Mitteln, die Idee aufrechtzuerhalten, dass die Russen heute dasselbe tun, was bereits ihre Urgrossväter im Kampf gegen Nazi-Deutschland gemacht haben.

Die Ideologie soll wohl auch über die miserablen Zustände in der Armee hinwegsehen lassen. Die Soldaten müssen selbst schauen, wie sie zurechtkommen. Und genau das kann ihnen zum Verhängnis werden.

«Das ist keine ausgebildete Armee»

Das unabhängige Portal «Meduza» hat mit Soldaten gesprochen, die bereits im Ukraine-Krieg waren und mittlerweile wieder zu Hause sind. Sie schätzen die Erfolgschancen der Neu-Mobilisierten als gering ein.

«Sie werden dort alle sterben. Sie werden verstümmelt und getötet werden. Das ist keine ausgebildete Armee!», erzählt ein Vertragssoldat. Obwohl er selber viel mehr Erfahrung gehabt habe, sei auch er unvorbereitet gewesen, sagt er. «Am ersten Tag wurde mir klar, dass ich den grössten Fehler meines Lebens gemacht hatte.» Bei der ersten Gelegenheit verliess er seinen Posten und reichte die Kündigung ein.

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Er glaubt, dass die Mobilisierung nur eine Taktik sei, den Krieg bis zum Winter hinauszuzögern. Bis zu dem Moment, wo die Kälte in Europa ungemütlich wird. «Ich sehe nicht, wie der Verlauf dieses Krieges überhaupt geändert werden kann. Die Verluste werden enorm sein: Wenn jetzt zehn Infanteristen auf einem Feld stehen, werden es 100 Männer auf demselben Feld sein. Unter ukrainischer Artillerie.»

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Durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei drei Wochen

Selbst Berufssoldaten seien ohne die Unterstützung von Flugzeugen und Panzern aufgeschmissen. «Schon zu meiner Zeit gab es keine Panzer und keine Flugzeuge mehr, und die Artillerie schoss immer noch daneben.»

Sorgen bereitet ihm in erster Linie die Auswahl der Männer. «Ein Freund von mir wurde mobilisiert. Er war Seemann, wurde 2005 ausgemustert und hatte sein ganzes Leben lang in den Minen gearbeitet! Auch andere Bekannte wurden mitgenommen: Einige von ihnen waren ihr ganzes Leben lang Hirten und hüteten ihre Herden. Sie wissen nicht mehr, wie man ein Maschinengewehr abfeuert!»

Der ehemalige Soldat erzählt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung an der Front drei Wochen betrage. «Diejenigen, die sechs Monate am Stück dienen, haben einfach zu viel Glück.» Er rate allen deshalb, lieber ins Gefängnis zu gehen. Man habe mehr Chancen, aus dem Knast lebendig zurückzukommen.

Auch ein anderer Vertragssoldat ist überzeugt: «Diese Mobilisierung ist der Beweis dafür, dass die Armee kaputt ist. Und sie rekrutieren jeden. Die Kaderarmee wurde in diesen sechs Monaten zerstört – und jetzt wird die Reservearmee aufgestellt. Diese Jungs werden vergeblich sterben.»

* Namen geändert

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