Sicherheitsexperte warnt vor Terrorwelle – auch in der Schweiz
«Die Dschihadisten in Europa formieren sich»

Laut Peter Neumann mobilisiert der Gazakrieg islamistische Netzwerke und Einzeltäter. Im Interview erklärt er, wie gefährlich das ist – und was die Sicherheitsbehörden jetzt tun müssen.
Publiziert: 11.11.2023 um 18:54 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2023 um 13:57 Uhr
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Peter R. Neumann gehört zu den weltweit renommiertesten Terror-Experten.
Foto: Polaris/laif
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Fabian EberhardStv. Chefredaktor SonntagsBlick

SonntagsBlick: Herr Neumann, Sie befürchten eine Zunahme islamistischer Anschläge in Europa. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Peter Neumann: Mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas befinden wir uns in einer sehr ähnlichen Situation wie vor zehn Jahren. Damals führte der Bürgerkrieg in Syrien zu einer nie da gewesenen dschihadistischen Mobilisierung.

Die Folge war eine Serie von Terrorangriffen in Brüssel, Berlin, Paris oder Nizza. Rechnen Sie erneut mit einem solchen Szenario?
Ja. Die Lage ist ernst. Europa droht eine neue Terrorwelle. Es könnte sogar noch schlimmer kommen.

Der neue Krieg im Nahen Osten ist doch kaum vergleichbar mit dem vor zehn Jahren in Syrien.
Es gibt viele Parallelen. Und einige Unterschiede. Beruhigend ist nichts davon.

Persönlich

Peter Neumann (48) gehört zu den weltweit renommiertesten Experten für islamistischen Terrorismus. Er berät die Vereinten Nationen sowie Regierungen weltweit. Der Deutsche studierte Politikwissenschaften in Berlin, Belfast und London. Bis 2018 war er Direktor des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am Londoner King’s College. Als Professor für Security Studies beobachtet er unter anderem Social-Media-Profile von jungen Dschihadisten.

Peter Neumann (48) gehört zu den weltweit renommiertesten Experten für islamistischen Terrorismus. Er berät die Vereinten Nationen sowie Regierungen weltweit. Der Deutsche studierte Politikwissenschaften in Berlin, Belfast und London. Bis 2018 war er Direktor des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am Londoner King’s College. Als Professor für Security Studies beobachtet er unter anderem Social-Media-Profile von jungen Dschihadisten.

Beginnen wir mit den Parallelen.
Bei beiden Kriegen spielten die sozialen Medien eine zentrale Rolle. Wie schon im Syrien-Krieg wird das Internet aktuell mit einer grossen Menge an dramatischen Bildern überschwemmt. Tote Babys in Gaza, verzweifelte Familien auf der Flucht. Das führt zu einer schnellen Radikalisierung in islamistischen Kreisen.

Ab 2014 reisten Tausende junge Männer aus dem Westen nach Syrien und schlossen sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an. Kommt es nun zu Dschihad-Reisen nach Gaza?
Ich denke nicht, womit wir beim ersten Unterschied sind: Die Hamas rekrutiert keine Auslandskämpfer. Und es ist beinahe unmöglich, in den abgeriegelten Gazastreifen zu reisen. Für uns in Europa ist das keine gute Nachricht.

Aus welchem Grund?
Radikalisierte müssen sich ihre Ziele hier suchen. Das erhöht die Terrorgefahr zusätzlich. Und noch etwas macht mir Sorgen.

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«Die Lage ist ernst. Auch die Schweiz ist gefährdet.»
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Was?
In Syrien handelte es sich um einen komplizierten Bürgerkrieg zwischen Muslimen. Diesmal sind die Fronten viel klarer. Für Islamisten ist es der zentralste Konflikt überhaupt: Juden gegen Muslime.

Wer in Europa ist jetzt besonders gefährdet?
Im Fokus stehen vor allem Ziele, die als jüdisch oder israelisch wahrgenommen werden: Synagogen, aber auch jüdische Schulen, Kindergärten, Geschäfte oder Cafés.

Im Gegensatz zum Islamischen Staat oder zur Al Kaida zeigte die Hamas bisher eigentlich nie Interesse an Terroranschlägen ausserhalb des Nahen Ostens. Ändert sich das jetzt?
Nein. Die Hamas sieht sich als national-islamistische Befreiungsbewegung und hat in ihrer ganzen Geschichte noch nie einen Anschlag ausserhalb der Region begangen. Das bedeutet aber nicht, dass Leute, die jetzt durch diesen Konflikt radikalisiert werden, nicht auf eigene Faust losschlagen.

Sogenannte einsame Wölfe.
In Duisburg plante ein Islamist, mit einem Lastwagen in eine Pro-Israel-Demo zu rasen. Die Ermittler konnten ihn gerade noch festnehmen. In den letzten zehn Jahren betrieben die grossen Terrororganisationen eine regelrechte Mythologisierung solcher Einzelkämpfer. Vor 15 Jahren galt es unter Dschihadisten noch als Option für Verlierer, allein zur Tat zu schreiten – ohne ein Netzwerk im Hintergrund. Heute feiern Gruppen wie der IS diese Art von Anschlägen.

Die grösste Gefahr geht zurzeit also von Einzeltätern aus?
Unmittelbar schon. Das kann sich aber schnell ändern. Die grossen Terrororganisationen springen gerade auf den fahrenden Zug auf. Sie haben das Ausmass der Emotionalisierung durch den Gazakrieg erkannt und formieren sich. Alte Netzwerke werden aktiviert, neu radikalisierte Islamisten stossen hinzu.

Der Gazakrieg als Erweckungserlebnis?
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist vieles in Bewegung geraten. Bis zu diesem Zeitpunkt war die dschihadistische Gefahr eigentlich eher zurückgegangen. Der Zusammenbruch des IS-Kalifats hat viele Islamisten frustriert. Nun haben sie ein neues Thema gefunden. In den letzten zwei Wochen wurde auf Kanälen des Islamischen Staats erstmals seit langem wieder zu Anschlägen in Europa aufgerufen.

Was müssen die Sicherheitsbehörden der westlichen Länder in dieser Situation tun?
Drei Dinge. Erster Punkt: Sie müssen die Terrorabwehr zur Priorität Nummer eins machen. Zweiter Punkt: Jüdische Einrichtungen müssen geschützt werden. Das geschieht bereits, seit dem 7. Oktober wurden die Sicherheitsmassnahmen in vielen Ländern verstärkt.

Und Punkt drei?
Ganz wichtig: Die Behörden müssen systematisch die altbekannten Gefährder abklappern. Von denen waren viele in letzter Zeit nicht mehr sehr aktiv. Nun gilt es abzuklären: Was hat der 7. Oktober bei ihnen ausgelöst? Die Geheimdienste müssen neu entstehende Netzwerke im Keim ersticken.

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«Die grossen Terrororganisationen haben das Ausmass der Emotionalisierung durch den Gazakrieg erkannt und formieren sich.»
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Gibt es denn Anzeichen dafür, dass sich solche neuen Netzwerke bilden?
Ich hatte diese Woche Einblick in einen Fall aus Österreich. Da hat sich ein altbekannter islamistischer Gefährder Ende 30 online mit einem 16-Jährigen verbunden, der seit dem 7. Oktober das Gefühl hat, er möchte jetzt «etwas machen». Wenn junge, neu radikalisierte Leute in die alten Netzwerke hineingeraten, wird es gefährlich. Das müssen wir verhindern.

Sind die Behörden dieser Aufgabe gewachsen?
Ich bin zuversichtlich. Sie sind deutlich besser aufgestellt als vor zehn Jahren. Wir haben aus der Terrorwelle nach 2015 viel gelernt.

Auch die Schweiz, wo es nie zu grösseren Anschlägen kam?
Die Schweiz – die übrigens genauso gefährdet ist wie Deutschland oder Österreich – erlebte die IS-Zeit ja auch. Beim Bundesamt für Polizei arbeiten inzwischen viele gute Leute, die sich auf Islamismus spezialisiert haben. Vor zehn Jahren war das noch nicht der Fall. Das stimmt mich positiv.

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