Während die ukrainischen Truppen nach einem umfassenden russischen Rückzug jubelnd ihre Nationalflagge über Cherson hissen, stellt sich bei westlichen Experten die Frage, ob die Offensiven für den nahenden Winter eingestellt werden oder es eine Art Patt-Situation geben wird – denn die russischen Truppen sind erschöpft und der Fluss Dnepr stellt für beide Kriegsparteien eine grosse Herausforderung dar.
Naheliegend wäre eine Winterpause – vor allem für Russland. Für die Ukraine wäre das allerdings fatal, wie das «Institute for the Study of War» (ISW) in seinem täglichen Bericht schreibt. Während die Verteidiger einen grossen Sieg errungen haben – die ukrainischen Truppen befinden sich schon im Zentrum Chersons – würde ein Waffenstillstand Russland in die Hände spielen. «Ein Waffenstillstand würde dem Kreml die dringend benötigte Ruhepause verschaffen, um die russischen Streitkräfte neu zu formieren», heisst es im Bericht.
Russen wollen mit Winterpause Zeit schinden
Falls es zu einer Winterpause kommen würde, könnte diese bis zu sechs Monate andauern. Regen und weicher Boden Ende November werden die Bewegungen beider Streitkräfte verlangsamen. Dann, wenn die Temperaturen fallen und der Boden gefriert, wird es für Panzer und Lastwagen leichter, sich zu bewegen. Aber die Möglichkeit von starkem Schneefall und noch kälterem Wetter könnte es für die schlecht ausgerüstete russische Armee schwierig machen, eine neue Offensive zu starten.
«Sie sehen bereits, dass das schlechte Wetter in der Ukraine die Dinge ein wenig verlangsamt», sagte Colin H. Kahl, der Unterstaatssekretär für Verteidigungspolitik, in der vergangenen Woche gegenüber der «New York Times». «Es wird wirklich schlammig, was gross angelegte Offensiven erschwert.»
Ukrainische Spezialeinheiten und Partisanenkräfte werden weiterhin kleinere Angriffe hinter den russischen Linien durchführen, so Justin Bronk, Senior Research Fellow für Militärwissenschaften am Royal United Services Institute, einer Organisation für Verteidigungsanalysen in London. Auch Militär-Experte Georg Häsler erklärt im Gespräch mit Blick TV: «Die Ukraine könnte noch vor dem Winter Gegenangriffe versuchen. Doch wirklich weitergehen wird es wohl erst im Januar und Februar.» Besonders die Russen würden jetzt Zeit schinden wollen.
«Im Krieg wird keine Pause eingelegt»
Doch das ISW sieht keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine kampflos in den Winter ziehen wird. «Das Winterwetter könnte schlecht ausgerüsteten russischen Streitkräften in der Ukraine unverhältnismässig grossen Schaden zufügen, aber gut ausgerüstete ukrainische Streitkräfte werden ihre Gegenoffensive wegen des Winterwetters wahrscheinlich nicht einstellen.» Vielmehr würden ukrainische Truppen das gefrorene Gelände zu ihren Gunsten nutzen, um sich leichter zu bewegen als in den schlammigen Herbstmonaten.
Laut «New York Times» gibt es aktuell sogar Hinweise dafür, dass sich das ukrainische Militär auf eine neue Landoffensive zwischen den beiden Fronten vorbereitet – südlich durch die Region Saporischschja in Richtung Melitopol, um Russlands Einfluss auf das gesamte südliche Gebiet herauszufordern, das es bei der im Februar begonnenen Invasion erobert hat. «Die Logik des Krieges besteht nicht darin, eine Pause einzulegen und irgendwie weiter vorzurücken», sagte Oberleutnant Andrij Michejtschenko, Kommandeur einer Panzerabwehreinheit, die die umkämpfte Stadt Bachmut im östlichen Donbass verteidigt, zur Zeitung. «Ich denke, dass es Gegenangriffe in andere Richtungen geben wird, sodass der Feind keine Zeit hat, Reserven zu verlegen und Angriffe zu blockieren.»
Weiter gab es Anzeichen dafür, dass die Ukraine weiterhin tief hinter den russischen Linien zuschlägt. So wurde von Raketenangriffen auf russische Truppen berichtet, die sich an mehreren Orten entlang des Ostufers neu gruppiert hatten, sowie von Angriffen in den letzten Tagen auf die südlichen Städte Melitopol und Henichesk in der Nähe der Schwarzmeerküste, mehr als 60 Kilometer von der Front entfernt. (chs)