Die Russen haben ihre Strategie geändert. Inzwischen nehmen Putins Truppen die kritische Infrastruktur in der Ukraine ins Visier. Per Fernbeschuss werden Kraftwerke, Öl- und Gasspeicher sowie Verkehrsknotenpunkte angegriffen.
Und das hat Folgen: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) sagte diese Woche, dass rund 30 Prozent der Kraftwerke zerstört worden seien. Mit Hochdruck sei man aber daran, die Infrastruktur zu reparieren. Am meisten leidet darunter die Bevölkerung, weil sie ohne Strom leben muss.
Nun haben die Russen offenbar ein besonders grosses Ziel. Nach Angaben der Ukraine wurde der Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka vermint. Die Anlage, die 1955 errichtet wurde, befindet sich in der südukrainischen Region Cherson.
Das Gebiet ist hart umkämpft. Putins Truppen sind in Bedrängnis. Ein Rückzug ist schwierig. In den vergangenen Wochen hat die ukrainische Armee Brücken über den Dniepr unpassierbar gemacht. Russland müsste sich demnach höchstwahrscheinlich stark auf eine temporäre Brücke aus Lastkähnen verlassen und auf militärische Ponton-Fähren.
Cherson und 80 Dörfer würden weggespült
Die Russen stecken in der Klemme. Und genau deswegen könnten sie den Staudamm sprengen. Das Ziel sei, den ukrainischen Vormarsch zu stoppen. Und damit könnten sie eine «Katastrophe grossen Ausmasses» anrichten, warnte Selenski. Im Falle eines Dammbruchs seien hunderttausende Menschen am Fluss Dniepr in Gefahr.
Kein Wunder: Der Stausee ist gigantisch. Das Staubecken ist 240 Kilometer lang und hat ein Fassungsvermögen von 18,2 Milliarden Kubikmeter Wasser. Zum Vergleich: Der grösste Staudamm in der Schweiz, der Grande Dixence im Kanton Wallis, hat ein Fassungsvermögen von 400 Millionen Kubikmeter.
Eine Sprengung des Kachowka-Damms hätte eine gigantische Flutwelle zur Folge. Damit würden die Stadt Cherson sowie 80 weitere Dörfer geflutet werden. Damit nicht genug: Eine Unterbrechung der Wasserversorgung in der Südukraine würde auch das Kühlsystem des Atomkraftwerks Saporischschja beeinträchtigen. Im Falle einer Zerstörung des Staudamms würde zudem «der Nord-Krim-Kanal einfach verschwinden», der die 2014 von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.
Ukrainer sollen Strom sparen
Angesichts der vorrückenden ukrainischen Truppen hatten die Russen am Mittwoch mit ihrem Rückzug aus der Stadt Cherson und der «Evakuierung» von Zivilisten begonnen. Inzwischen seien 15'000 Menschen ans linke Ufer des Dniepr gebracht worden, erklärte der Verwaltungsvertreter Kirill Stremussow (45). Kiew verurteilt das Vorgehen als «Deportation» von Zivilisten nach Russland.
Nach zahlreichen russischen Angriffen auf die Strom-Infrastruktur im Land sind die Ukrainer seit Donnerstag zum Stromsparen aufgerufen. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (51) bat die Bewohner der Hauptstadt, zwischen 7 und 23 Uhr keine grösseren Elektrogeräte zu nutzen. Selbst eine kleine Energieeinsparung in jedem Haushalt werde dabei helfen, den Betrieb des ukrainischen Energiesystems zu stabilisieren, erklärte er.
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In einer Videoansprache beim EU-Gipfel in Brüssel warf Selenskyj Russland vor, die Energie-Infrastruktur seines Landes in ein «Schlachtfeld» verwandelt zu haben. Russland löse dadurch eine neue Flüchtlingswelle in die EU-Länder aus. Moskau verfolge damit die Absicht, der Ukraine im Herbst und Winter Strom- und Heizprobleme zu bescheren und «so viele Ukrainer wie möglich in ihre Länder zu schicken», sagte Selenski an die EU-Staaten gerichtet.
Der ukrainische Staatschef forderte die EU-Länder auf, Kiew mit mehr und ausgefeilteren Luftabwehrsystemen auszustatten und Moskau mit weiteren wirtschaftlichen Sanktionen zu belegen.