Militär-Experte erklärt
Darum stecken Putins Truppen in der Cherson-Falle

Russland hat im Angriffskrieg als erste grosse Stadt Cherson eingenommen. Doch inzwischen wurden die Soldaten knapp 30 Kilometer zurückgedrängt. Experten gehen davon aus, dass der Kreml die Stadt nicht mehr lange halten kann.
Publiziert: 20.10.2022 um 17:26 Uhr
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Russland steckt in der Cherson-Falle. So sagt der russische General Sergej Surowikin, es müssten «schwierige Entscheidungen» getroffen werden.
Foto: keystone-sda.ch
Tanja von Arx

Das Statement gibt zu reden. Und zwar deshalb, weil es alles Mögliche heissen kann. Russland erwartet offenbar einen Grossangriff auf die teils besetzte ukrainische Stadt Cherson im Süden des Landes. So sagt der pro-russische Verwaltungschef Wladimir Saldo (66) am Mittwoch gegenüber dem russischen Sender Rossija 24: «Bis 60'000 Zivilisten sollen auf die linke Seite des Flusses Dnipro verlegt werden» – dies mit allen Einheiten der lokalen Verwaltung.

Die Ukraine hingegen nennt das eine «Propaganda-Show». Konkret sagt Serhij Chlan, der ukrainische Berater des Regionalgouverneurs von Cherson, auf einer Pressekonferenz: «Das kommt einer Deportation gleich, es geht nur darum, Panik zu schüren.» Konkrete Angaben zum Frontgeschehen gibt es von ukrainischer Seite indes nicht. Wie ist die Lage denn jetzt einzuordnen?

«Russland steht unter Druck»

Strategieexperte Marcel Berni (34) von der Militärakademie an der ETH Zürich sagt: «Es handelt sich um ein klassisches Dilemma zwischen militärischer und politischer Logik.» Aus militärischer Sicht mache es wohl nur bedingt Sinn, die besetzten Gebiete in Cherson westlich des Dnipro mit allen Mitteln zu halten. «Russland steht zu sehr unter Druck.»

Aber der Kreml wolle das unbedingt. Kein Wunder: «Es geht um Prestige.» Cherson sei eine der ersten grossen Städte gewesen, welche die Russen am Anfang des Angriffskrieges eingenommen habe. «Die Ukraine indessen könnte ein Zeichen setzen, wenn sie nach den jüngsten Erfolgen im Nordosten nun auch im Süden welche verzeichnen könnte.» Das im Sinne von: «Jetzt drehen wir auch in Cherson den Spiess um.»

«Cherson ist sehr ungünstig gelegen»

Diese Ansicht werde dadurch gestützt, dass der russische General Sergej Surowikin (56) kürzlich habe verlauten lassen, es müssten «schwierige Entscheidungen» getroffen werden, so Berni. «Cherson ist für die russischen Besatzer geografisch sehr ungünstig gelegen. Es macht keinen Sinn, die Stadt unter allen Umständen zu halten – das wird nur für den Moment gelingen.» Russland habe eine gefährliche Stellung und werde immer weiter zurückgedrängt.

Insgesamt mussten die Russen bislang knapp dreissig Kilometer zurückweichen. Bloss: Warum? Berni zu Blick: «Man hat die Stadt zu Beginn des Krieges schnell eingenommen, die Soldaten sind erschöpft und nicht mehr gut versorgt.» Ausserdem habe die Ukraine westliche Waffenlieferungen erhalten, unter anderem Mehrfachraketenwerfer, mit denen sie die Logistik wie Brücken und Versorgungsketten habe zerstören können. «Man hat die russischen Rückzugs- und Versorgungsmöglichkeiten kontinuierlich angegriffen und vernichtet.»

Britische Experten: «Russen erwägen Rückzug»

Britische Militärexperten gehen mittlerweile davon aus, dass die russische Führung einen grösseren Rückzug ihrer Truppen aus dem Gebiet westlich des Flusses Dnipro erwäge. Es gibt aber ein grosses Problem für die Russen. In den vergangenen Wochen hat die ukrainische Armee Brücken über den Dnipro unpassierbar gemacht. Russland müsste sich demnach höchstwahrscheinlich stark auf eine temporäre Brücke aus Lastkähnen verlassen und auf militärische Ponton-Fähren, so die britischen Experten.

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