Schwere Anschuldigungen gegenüber der Polizei im Zusammenhang mit dem Blutbad an der Robb Elementary School in der texanischen Kleinstadt Uvalde: Hätten einige der Opfer durch entschiedeneres Eingreifen der Polizei gerettet werden können? Über eine Stunde verbrachte der Angreifer Salvador R.* (†18) in der Schule, in der er ein Blutbad anrichtete. Derweil warteten zahlreiche schwerbewaffnete Polizisten vor dem Gebäude auf Verstärkung.
Ein Augenzeugenvideo zeigt, wie verzweifelte Eltern die Beamten auffordern, etwas gegen den Schützen zu tun. «Das sind kleine Kinder, sie wissen nicht, wie sie sich verteidigen können. Sechsjährige Kinder sind da drin, sie wissen nicht, wie sie sich gegen einen Schützen zur Wehr setzen können», schreit ein wütender Mann. Eine Mutter: «Wir sind Eltern! Schaltet ihn verdammt nochmal aus!»
Die Polizisten reagieren schroff, schubsen Eltern weg. «Weg da!», sagt ein Beamter missmutig. Auf dem Video ist auch zu sehen, wie Polizisten eine Person am Boden fixieren. Ein schwer bewaffneter Beamter hält den Taser stets einsatzbereit in der rechten Hand. Angesichts der Weigerung der Einsatzkräfte, gegen den Schützen vorzugehen, wollen einige Eltern selber zugreifen. Ein frustrierter Vater erklärt: «Alle Eltern werden jetzt reingehen.»
«Sie standen da einfach ausserhalb des Zaunes rum»
Während Salvador R. im Schulhaus tötete, ging die Polizei mit harter Hand gegen die verzweifelten Eltern vor. Angeli Rose Gomez, Mutter zweier Kinder, die sich zur Tatzeit im Gebäude befanden, erzählt gegenüber dem «Wall Street Journal», sie sei umgehend zum Ort des Geschehens gefahren, als sie von den Schüssen erfahren habe. Gomez war verwundert über die Untätigkeit der Polizisten. «Sie standen da einfach ausserhalb des Zaunes rum. Weder gingen sie hinein, noch rannten sie irgendwohin.»
Statt den Killer zu stoppen, gingen die Beamten auf das Mami los. Sie wurde in Handschellen gelegt. Sie sei wegen Eingreifens in eine laufende Ermittlung verhaftet, habe man ihr gesagt. Gomez kennt einige der örtlichen Polizisten persönlich, daher konnte sie diese überzeugen, ihr die Handschellen wieder zu entfernen.
Die Mutter nahm das Schicksal ihrer Kinder daraufhin selbst in die Hand: Sie entfernte sich von der Menschenmenge, sprang über den Zaun, der die Schule umgibt und rannte ins Gebäude. Sie habe ihre Kinder finden können und sei anschliessend mit den beiden aus der Schule geflohen, erzählt Gomez weiter.
«Das haben sie nicht mit dem Schützen gemacht»
Wie ein Feuerwehrmann gegenüber der «New York Post» erklärt, seien auch einige Väter über den Zaun gesprungen. Sie hätten Fensterscheiben eingeschlagen, um ihre Kinder aus den Klassenzimmern zu holen und in Sicherheit zu bringen.
Gomes sagt, sie sei nicht die einzige Angehörige gewesen, die am Tatort ins Visier der Polizisten geriet. Sie habe gesehen, wie die Polizei einen Vater auf den Boden geworfen und einen anderen mit Pfefferspray besprüht habe.
Einen dritten Vater beschossen die Beamten mit einer Taser-Pistole, die Angreifer mittels Stromschläge ausschaltet, als er sich einem Bus mit Schülern an Bord näherte, um sein Kind abzuholen. «Das haben sie nicht mit dem Schützen gemacht, sondern mit uns», sagt Gomez und meinte damit sich und andere Eltern.
Polizisten hatten Angst vor dem Amokläufer
Wie Chris Olivarez vom Departement für öffentliche Sicherheit des US-Bundesstaats Texas gegenüber CNN erklärt, hatten die Polizisten bei ihrem Einsatz zunächst Angst, dass sie selbst erschossen werden könnten.
Die Begründung: Die ersten Polizisten, die nach dem Angreifer ins Schulhaus gegangen waren, seien von Schüssen getroffen worden. Daraufhin hätten sie sich wieder zurückziehen müssen. «Zu diesem Zeitpunkt, wenn sie die Sache weiterverfolgt hätten – ohne zu wissen, wo sich der Verdächtige aufhielt – hätten sie erschossen werden können; sie hätten getötet werden können und zu diesem Zeitpunkt hätte der Schütze die Möglichkeit gehabt, andere Menschen in der Schule zu töten», sagt Olivarez.
Bei einer Pressekonferenz in der Gemeinde Uvalde erklären die Behörden, die Polizei sei innerhalb weniger Minuten vor Ort gewesen, weil Zeugen den bewaffneten Schützen vor der Schule gesehen hätten.
Auf die Frage, warum die Polizei nicht direkt versucht habe, in das betreffende Klassenzimmer einzudringen, heisst es, den Polizisten habe es an Spezialausrüstung gefehlt. Die Tür sei verbarrikadiert gewesen. Die Polizei habe dann Verstärkung angefordert und Schulkinder und Lehrkräfte in Sicherheit gebracht. Ausserdem habe sie versucht, mit dem Schützen zu verhandeln. Dieser habe einen Grossteil der Schüsse ganz am Anfang abgefeuert. Während der Verhandlungen sei viel geschossen worden. Salvador R. habe lediglich versucht, die Polizisten auf Abstand zu halten.
Mussten Spezialkräfte zuerst Schlüssel organisieren?
Nach rund einer Stunde trafen schliesslich Spezialkräfte ein. Laut einem mit den Ermittlungen vertrauten Beamten hätten die Agenten der Grenzpatrouille Schwierigkeiten gehabt, die Tür des Klassenzimmers zu öffnen. Sie mussten einem Bericht der Nachrichtenagentur «AP» zufolge zuerst einen Mitarbeiter der Schule bitten, den Raum mit einem Schlüssel zu öffnen. Der Beamte will namentlich nicht genannt werden, weil er nicht befugt ist, öffentlich über die laufenden Ermittlungen zu sprechen.
Salvador R. wurde schliesslich von einem Beamten der Grenzschutz-Spezialeinheit erschossen. Bis dahin hatte der 18-Jährige jedoch genug Zeit gehabt, 19 Kinder und zwei Lehrerinnen zu töten. (noo)
* Name bekannt