Die Anspannung in Brüssel ist spürbar. Auch vier Tage nach dem Attentat auf zwei schwedische Fussballfans in Belgiens Hauptstadt sind die Leute nervös und die Sirenen der Polizeiautos unüberhörbar.
Es ist Montagabend, als der islamistische Terrorist Abdesalem L.* (†45) zwei Männer erschiesst. Einer der beiden ist SBB-Mitarbeiter Patrick L.* (†60) aus dem Kanton Bern.
Am Freitag besucht Blick die Stadt. Konkret: das Quartier, in dem die mörderische Tat passierte. Männer aus Schwarz- und Nordafrika stehen am Strassenrand. Lahcen Hammouch (52) erklärt, was sie dort tun. Er ist Medienunternehmer und kennt die muslimische Szene in Brüssel.
Mit Kenner durchs Quartier
Er begleitet Blick durch die gefährliche Gegend. Die Menschen im Quartier respektieren Hammouch – sie schauen ihn nicht schräg an. «Es sind Asylbewerber, die Arbeit suchen. Sie lungern hier rum, weil in der Nähe eine grosse Asylunterkunft steht.»
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Plötzlich rennt ein halbes Dutzend der Männer zu einem schwarzen Auto. «Der Mann im Auto will sie als Taglöhner anstellen», sagt Hammouch. «Als Handwerker oder Gärtner. Jeder der Männer will den Job unbedingt.» Wer ihn nicht erhält, versucht anders an Geld zu kommen. Drogen verticken ist ein Weg für einige. «Oder sie klauen.»
Eine Häuserecke weiter: ein grosses Blumenmeer. Und schwedische Fussballtrikots. Hier schlug der tunesische Mörder am Montag zu. Immer wieder kommen Menschen vorbei und halten inne. «Vorsichtig sein mit Kamera und Mikro», mahnt Hammouch. Denn vor allem junge Männer sähen Journalisten hier nicht gerne. «Sie finden, die Medien stellen sie und Brüssel in ein sehr negatives Licht mit ihrer Berichterstattung in den letzten Tagen.»
«Anfällig, in die Hände der Islamisten zu fallen»
Doch in seiner Begleitung sei es ungefährlich, hier mit Reporter-Requisiten aufzutauchen. «Wenn einer blöd tut, weise ich ihn auf Arabisch zurecht», sagt der gebürtige Marokkaner.
Dann wird er ernst, als er über den Terroristen spricht: «Er hat eine sehr schwierige Geschichte hier in Belgien. Er ist ein abgelehnter Asylbewerber.» Der Tunesier habe keine Perspektive gehabt und sei dadurch psychisch labil geworden. «Leider war er mit diesem Profil anfällig, in die Hände der Islamisten zu fallen.»
Aber selbst unter diesen Umständen hätte man das Verbrechen verhindern können, ist Terrorismusexperte Claude Moniquet überzeugt. Der 65-Jährige arbeitete für den französischen Auslandsgeheimdienst und war Politiker und Journalist. Er erklärt: «Die Behörden schickten Abdesalem einen Brief, dass er das Land verlassen müsse. Aber wussten angeblich nicht, wo er sich aufhält.» Dabei: «Er lebte bei seiner Frau, die offiziell in Belgien registriert ist und deren Adresse man kennt. Die Tochter besucht das Schulsystem. Alle Händler des Quartiers fanden ihn, nur die Behörden nicht.»
Vorwurf an Behörden
Erst am Dienstag, Stunden nach dem Attentat, spürte ihn die Polizei auf. «Nahe an seinem Wohnort», wie Moniquet betont. Sein Fazit: «Hätten sich die Behörden nur ein wenig angestrengt, hätten sie den Mann vor seiner Tat gefunden. Man hätte ihm mitgeteilt, dass er das Land verlassen müsse und ihn zum Flughafen gebracht.» Und: «Am Montagabend hätte es kein Attentat gegeben.»
Seine Kritik an der Regierung: «Er war als Straftäter bekannt, seit Jahren wusste man von seiner Radikalisierung. Diese Informationen fanden aber nicht den Weg in die Gehirne der Menschen, die dieses Land lenken.» Kurz: «Sie sind unfähig, Dinge zu planen und Gefahren zu antizipieren. Sie wachen immer erst auf, nachdem die Terrorakte stattgefunden haben.»
Einer, der sehr wohl wach ist und jetzt mehr denn je um seine Verantwortung weiss, ist Imam Mouhameth Galaye Ndiaye (47). Er ist ehemaliger Imam der grossen Moschee von Brüssel, Direktor des islamischen Instituts Al-Mihrab in Belgien und Präsident der Vereinigung der afrikanischen Muslime Belgiens. Zurzeit predigt er in diversen Moscheen in Brüssel. Er betont: «Wir Imame waren die Ersten, die den Terrorakt von Montag verurteilten. Was dieser Mann tat, ist das Gegenteil von dem, was der Islam beinhaltet.»
Klare Botschaften
Er weiss auch um die Gefahr der Generalisierung: «Nach jedem islamistischen Verbrechen sieht man alle Muslime als Terroristen an. Natürlich ist das nicht der Fall.» Denn: «Der Mann, der am Montag zwei Menschen getötet hat, hat in seinem Namen gehandelt – nicht im Namen des Islams und nicht im Namen der Muslime.»
Deshalb sei es jetzt wichtig, dass Imame in Belgien zusammenstehen. «Wir brauchen Imame, die klare Botschaften verbreiten, die tolerant und moderat sind und keine Doppeldeutigkeiten aussenden und Frieden predigen», sagt Ndiaye. «Imame, die sich als belgische Bürger sehen, sich als solche verhalten und auch das Land lieben.» Fazit: «Wir müssen alles dafür tun, den islamistischen Terror zu beenden.»
* Namen bekannt