Die Studentin Vanessa L.* (†22) hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Nun ist sie tot. Die junge Frau wurde Opfer eines Tötungsdelikts in Hamburg. Die Polizei hatte ihre Leiche am Dienstagmorgen zusammen mit dem leblosen Körper von Julian G.* (†23) im Treppenhaus der Frau gefunden. Nach Angaben der Polizei hatte der Mann die Frau getötet und sich dann selbst gerichtet. Vor Ort wurde eine Schusswaffe sichergestellt.
Der Schweizer Julian G. kommt aus Güttingen TG. Die Deutsche Vanessa L. wohnte vor ihrem Umzug nach Hamburg vor zweieinhalb Jahren ebenfalls in der Ostschweiz. Die beiden kannten sich, weil G. mit L.s Bruder zur Schule ging.
«Er hat meine Tochter neun Monate lang gestalkt», sagte Elisabeth L.* (62), die Mutter von Todesopfer Vanessa L.*, zu Blick. Er habe sich Hals über Kopf in sie verliebt, ihre Tochter habe aber keine Beziehung gewollt.
Doch Julian G. habe kein Nein akzeptiert, sie immer wieder mit Nachrichten unter Druck gesetzt. «Schon im November stand er ganz unerwartet vor ihrer Tür», erzählt die Mutter und fährt fort: «Sie hat ihm zuvor gesagt, dass sie keinen Kontakt wolle. Das liess er aber nicht auf sich sitzen.» Am Ende griff der Thurgauer zur Waffe und wurde zum Killer.
Stalking-Fälle enden selten tödlich
Dass Stalking zum Tötungsdelikt wird, sei laut Forensiker Thomas Knecht (63) sehr ungewöhnlich. «In Europa ist es äusserst selten, dass Stalking-Fälle derart tragisch enden – es sind weit unter einem Prozent aller Fälle», sagt er zu Blick.
Stalker hätten auch selten eine kriminelle Vorgeschichte. In der Regel seien es Personen, die auf dem Partnermarkt wenig Erfolg hätten, allerdings für ablehnende Signale kaum empfindlich seien. «Sie blenden sie aus und forcieren trotz allem eine Kontaktaufnahme», sagt Knecht.
Ob ein Stalker tatsächlich auch zum Killer wird und seine Drohungen umsetzt, hängt laut Knecht von diversen Risikofaktoren ab. Zum Beispiel, ob ein Alkohol- oder Drogenmissbrauch vorliegt, die Person arbeitslos ist oder Gewalt- oder Sexualdelikte in der Vergangenheit ein Thema waren. Weitere Faktoren «sind Persönlichkeitsstörungen, sexuelle Gewaltfantasien oder soziale Isolation. Im Hamburg-Fall scheinen hochgespannte Besitzansprüche, hochgradige Reizbarkeit, Zugang zu Waffen und Suizidalität diejenigen Risikofaktoren gewesen zu sein, die zugetroffen haben», sagt der Experte.
Eiskunstläuferinnen sind typische Projektionsfiguren
Dass Julian G. ausgerechnet die Eiskunstläuferin Vanessa L. zu seinem krankhaften Objekt der Begierde ausgesucht hat, ist für den Psychiater nicht überraschend. «Eiskunstläuferinnen und Schauspielerinnen sind oft typische Projektionsfiguren von Stalkern. Sie erfüllen die Wunschvorstellungen auf eine perfekte Art», sagt Knecht.
Zwar sei der junge Mann mit seinen 23 Jahren für einen Stalker unterdurchschnittlich jung gewesen. Allerdings zeige die Statistik, dass Männer die schwersten Gewalttaten im Alter zwischen 22 und 24 Jahren begehen, so Knecht.
Und: «Mit Abstand die gefährlichste Stalker-Kategorie ist jene der verschmähten Liebhaber. An zweiter Stelle folgen solche, die zwar keine Intimbeziehung mit dem Opfer hatten, aber sich dennoch in Liebesangelegenheiten zurückgewiesen fühlen und deshalb eine Beziehung erzwingen wollen.» Ein solcher war offenbar auch Julian G.
«Der Stalker ist fanatisch auf das Zielobjekt fixiert»
Wenn man die Aussagen der Mutter anschaut, passen die neun Monate, die er Vanessa L. gestalkt haben soll, durchaus ins Bild. «Im Schnitt dauert eine solche Stalking-Affäre ein Jahr. In dieser Zeit versucht der Mann, eine Intimbeziehung aufzubauen. Er durchläuft dabei verschiedene Phasen – vom Hochmut und Euphorie zum Kummer und Enttäuschung, bis hin zur letzten Phase, der Resignation.»
Wenn das Rachebedürfnis einsetzt, stecke die Person bereits so tief in der negativen Verfassung drin, dass es für sie keine Rückkehr gibt, erklärt Knecht.
«Häufig wird der Prozess von aussen abgebremst, etwa weil die Polizei interveniert. Es ist aber auch möglich, dass der Stalker selber die Kurve kriegt und in der Phase der Resignation seinen Hass darauf lenken kann, mit der Person nichts mehr zu tun haben zu wollen – worauf die Entwöhnung beginnt.»
«Er war unter Schock und zutiefst erschüttert»
Julian G. hat die Kurve offenbar nicht gekriegt. Bei ihm könne man also von einer «Politik der verbrannten Erde» sprechen, sagt Knecht. «Der Stalker ist fanatisch auf das Zielobjekt fixiert. Sein Gedanke ist: Wenn er die Frau nicht haben kann, soll sie auch sonst keiner kriegen. Und wenn die Frau tot ist, wird auch sein Lebenssinn infrage gestellt, weswegen dann der Suizid folgt.»
Das Drama in Hamburg erschüttert Familie und Freunde des mutmasslichen Todesschützen. Der Vater fiel aus allen Wolken, als ihn die Nachricht erreichte. Er meldete sich am Dienstagabend telefonisch beim Gemeindepräsidenten Urs Rutishauser (55). «Er war unter Schock und zutiefst erschüttert», sagte Rutishauser zu Blick.
Über den Gemeindepräsidenten lässt der Vater des Killers ausrichten: «Mein Sohn war ein ganz feiner Mensch. Was jetzt passiert ist, ist für die ganze Familie unbegreiflich.» Im Dorf gibt es keine Vorgeschichte des jungen Mannes, die auf so eine Gewalttat hätte schliessen lassen. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat die Ermittlungen aufgenommen.
* Namen geändert