Dieser Song erreichte über 120 Millionen Aufrufe
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Kindersong «Sigma-Boy»:Dieser Song erreichte über 120 Millionen Aufrufe

Pop oder Propaganda?
Warum der Viral-Hit «Sigma Boy» zum Politikum wurde

63 Millionen Klicks auf Spotify, 120 Millionen auf Youtube: «Sigma Boy» ist ein Phänomen. Doch der Song sorgt nicht nur wegen seiner Ohrwurmqualität für Aufsehen. Sexismus und russische Propaganda soll er verbreiten. Blick ordnet mit einer Expertin ein.
Publiziert: 15.04.2025 um 16:46 Uhr
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Aktualisiert: 08:36 Uhr
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Der russische Song «Sigma Boy» von Swetlana «Betsy» Tschertischtschewa und Marija Jankowskaja stürmte die internationalen Charts.
Foto: You Tube

Darum gehts

  • Russischer Kindersong «Sigma Boy» wird viraler Hit und löst Kontroversen aus
  • Lied von zwei jungen Mädchen gesungen, von deutschem Influencer unterstützt
  • Youtube-Video erreicht über 120 Millionen Aufrufe, Song in internationalen Charts
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Daniel MacherRedaktor News

«Sigma-sigma boy, sigma boy, sigma boy», singen zwei Mädchen in grellen Felljacken zu einem stampfenden Beat. Auf der grossen Bühne wirken sie noch etwas unsicher, nicht jede Bewegung der Choreografie sitzt. Doch das sei ihnen verziehen – die beiden sind erst elf und zwölf Jahre alt.

Trotz ihres jungen Alters sind Swetlana «Betsy» Tschertischtschewa (11) und Marija Jankowskaja (12), die Interpretinnen von «Sigma Boy», in ihrer Heimat bereits Stars. Seit der virale Hit auch die europäischen und amerikanischen Charts erobert hat, kennt man die Kinderstars weit über Russlands Grenzen hinaus.

Neu ist der eingängige Popsong nicht. Bereits im Oktober letzten Jahres erschien er in Russland. Über soziale Medien fand das Lied seinen Weg in die Kinderzimmer. Auch nach über sechs Monaten bleibt der Ostexport ein Gesprächsthema – nicht nur wegen seines Ohrwurmpotenzials.

Hilfe von einem deutschen Influencer

Hinter dem Hit steht der russische Komponist Michail Tschertischtschew, Betsys Vater, der das Lied für sie schrieb. Anfangs kaum beachtet, ging es auf Tiktok viral. Unterstützung kam vom deutschen Influencer «Streichbruder» alias Simon Both, einem 17-jährigen Schüler aus Bayern. Er hat bescheidenen Ruhm erlangt, indem er an öffentlichen Orten Lieder abspielt und dazu tanzt.

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Am 21. November veröffentlichte er ein Video, in dem er in einer Münchner U-Bahn zu «Sigma Boy» tanzt. Eine Woche später erreichte der Song Platz eins der deutschen «Spotify Viral Charts». Es folgten Einträge in die britischen Single-Charts und die amerikanischen Billboard-Charts. Das Youtube-Video hat inzwischen über 120 Millionen Aufrufe.

Politische Aufmerksamkeit erhielt «Sigma Boy», als die EU-Politikerin Nela Riehl (39) vor dem Lied warnte. Der russische Text, so behauptete sie im EU-Parlament, vermittle eine patriarchale und pro-russische Weltanschauung. Doch wie kommt die Lehrerin aus Hamburg zu dieser Einschätzung?

Pro-russische und sexistische Weltanschauungen?

Der Hintergrund liegt in der Idee des Sigma-Mannes. Der Begriff gewann seit 2021 in maskulinen Onlinekreisen an Popularität. Geprägt wurde er 2010 von Theodore Robert Beale (56), einem rechten Blogger aus den USA. Er beschreibt Sigmas als «Aussenseiter, die das soziale Spiel nicht mitspielen und trotzdem gewinnen». Sie mögen Frauen oft, neigen aber auch dazu, sie zu verachten. Die neurechte Incels-Bewegung um den umstrittenen Influencer Andrew Tate (38) griff das Konzept später auf.

«Diese Bewegung junger Männer ist aus feministischer und intellektueller Sicht ein Gegentrend zur Emanzipation und bedroht diese», erklärt die Soziologin Katja Rost von der Universität Zürich. «Sie verbreitet Männlichkeitsnormen, die als Rückschritt gelten. Doch auf jeden Trend folgt ein Gegentrend.» Deshalb solle man solche Phänomene nicht «diktatorisch» verbieten, so Rost.

«I’m being dreamed of like I’m bitcoin»

Ob der Sigma-Boy, den die beiden Mädchen im Lied anhimmeln, eine kindliche Version des Sigma-Mannes darstellt, bleibt unklar. Michail Tschertischtschew bestreitet dies und erklärte dem «Spiegel», er habe von diesem Konzept nichts gewusst. Auch ein russisches Weltbild lasse sich im Text nicht finden. Zeilen wie «I’ll buy all the Skittles, Snickers, you’ll be mine, boy» und «I’m being dreamed of like I’m bitcoin» erinnern eher an kindliche Fantasien.

Leonid Sluzki, ein russischer Politiker, nutzte den Vorwurf der Propaganda jedoch für seine Zwecke. Er erklärte, der Song stehe für Russlands Erfolg und könne «das bösartige Fundament des LGBTQ-Faschismus» besiegen. Solche politischen Entgleisungen sind im heutigen Russland keine Ausnahme. Dennoch sollte man Sinn, Absicht und Wirkung von «Sigma Boy» nicht überbewerten.

«Also irgendwie alles halb so wild»

Auch Katja Rost sieht das so: «Hier vermischen und instrumentalisieren verschiedene Gruppen einen (mehr oder weniger unschuldigen) Song für ihre politischen Zwecke. Der Song dient als Symbol, gegen das man zivilgesellschaftlich mobilisieren kann und das Befürworter verstehen. Im Kern geht es um einen politischen Kampf: gegen toxische Männlichkeit und Diktaturen.»

«Für zivilgesellschaftliche Bewegungen ist das ein gefundenes Fressen. Sie nutzen solche symbolträchtigen, massenwirksamen Signale, um Aufmerksamkeit für ihre Botschaften zu gewinnen – etwa gegen toxische Männlichkeit vorzugehen. Alles in allem ist das halb so wild», schliesst Rost.


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