Seit Kriegsbeginn versucht die Ukraine mittels Drohnen und kleineren Einheiten, Russland anzugreifen und zu schwächen. Doch dieses Mal sieht es nach einer grösseren Attacke aus.
Nach russischer Darstellung versuchten mehrere Hundert ukrainische Soldaten über die Grenze in der Region Kursk zu stürmen. Was genau hat die Ukraine vor? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was genau ist passiert?
In der südrussischen Region Kursk berichteten Bewohner in sozialen Medien von schweren ukrainischen Angriffen. Durch Kampfdrohnen seien mindestens 18 Menschen verletzt worden, teilte Gouverneur Alexej Smirnow auf der Plattform Telegram mit. In sozialen Medien verbreitete Videos zeigen unter anderem einen ausgebrannten Tankwagen an einem nicht näher beschriebenen Ort. Insgesamt seien 26 Drohnen abgeschossen worden.
Am Mittwochmittag Schweizer Zeit folgte dann der Paukenschlag: Nach den ukrainischen Angriffen auf die westrussische Oblast haben die Behörden Tausende Menschen aus der Grenzregion evakuiert. Das teilte der Gouverneur Alexej Smirnow mit. «Mehrere tausend Menschen haben die unter Beschuss befindliche Region mit unserer Hilfe verlassen», so Smirnow in einer auf Telegram veröffentlichten Videobotschaft. Viele Bürger seien von sich aus geflohen und hätten ihre Wohnungen in Privatfahrzeugen verlassen. Zudem seien 200 Menschen in Transportfahrzeugen und Bussen aus den beschossenen Ortschaften in Sicherheit gebracht worden.
Smirnow sagte, er habe noch in der Nacht mit Kremlchef Wladimir Putin (71) telefoniert. Der Präsident habe die Situation unter persönliche Kontrolle genommen. Es seien auch Notunterkünfte mit rund 2500 Plätzen eingerichtet worden. Dort seien auch Psychologen im Einsatz.
Was ist anders als bei den üblichen Angriffen durch die Ukraine?
Laut Russland kamen nicht nur Drohnen zum Einsatz. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren an dem Angriff rund 300 Soldaten, elf Panzer und etwa 20 weitere gepanzerte Fahrzeuge beteiligt. Das Ministerium gab an, 16 Fahrzeuge zerstört zu haben. Es gibt mindestens 3 Tote und 28 Verletzte unter Zivilisten, wie russische Medien nach Angaben von Behörden und Ärzten meldeten.
Versuche eines Durchbruchs auf russisches Staatsgebiet seien gescheitert, hiess es. Die Kämpfe dauerten seit dem Morgen an, teilte unter anderem das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Russische Kampfflugzeuge unterstützten die Bodentruppen.
Während es vom Verteidigungsministerium in Moskau anfangs nur spärliche Informationen zur Lage in der Region gibt, behaupteten russische Militärblogger, es handele sich um einen vollwertigen Angriff ukrainischer Streitkräfte. Sie hätten auch russische Soldaten als Gefangene genommen und sich in einzelnen Ortschaften des Gebiets Kursk festgesetzt, hiess es in verschiedenen Telegram-Kanälen der Blogger.
Am Mittwochmittag äusserte sich das Verteidigungsministerium zu die anhaltenden Kampfhandlungen. «Die Operation zur Vernichtung der Gruppierungen der Streitkräfte der Ukraine wird fortgesetzt», hiess es aus Moskau.
Was ist über die Verluste bekannt?
Russische Pro-Kriegs-Kanäle haben Videoaufnahmen in Umlauf gebracht, die zeigen, wie mehrere ukrainische Panzerfahrzeuge zertrümmert werden, sowie Aufnahmen von zwei ukrainischen Buk SAMs (Raketen-System), die angeblich in der Region Sumy getroffen wurden, wie die russische BBC berichtet.
Sie geben auch den Verlust eines russischen Ka-52-Hubschraubers zu und behaupten, dass sein Kommandant getötet wurde, und berichten, dass ein weiterer Hubschrauber abgeschossen wurde, aber sicher landen konnte.
In den ukrainischen sozialen Medien wurde ein Foto eines zerstörten Schleppnetzes mit zwei T-62-Panzern veröffentlicht. Es sind auch Videoaufnahmen aufgetaucht, die angeblich sechs russische Soldaten zeigen, die in der Region Kursk gefangen genommen wurden. Angeblich handelt es sich bei mindestens zwei von ihnen um Wehrpflichtige, bei einem weiteren um einen Vertragssoldaten. Die Angaben der beiden Kriegsparteien konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Wer steckt hinter dem Angriff auf Russland?
Das ist noch unklar. Die Ukraine hat sich bislang nicht zu der Attacke geäussert. Allerdings gab es schon einmal einen solchen Angriff. Und zwar im Jahr 2023. Damals hatten Kämpfer des Russischen Freiwilligenkorps und der Russischen Freiheitslegion – beide in Russland als terroristische Organisationen deklariert und verboten – das Gebiet der Regionen Brjansk, Kursk und Belgorod überfallen.
Wieso gibt es gerade jetzt einen solchen massiven Angriff?
Experten vermuten, dass dahinter eine Art Ablenkungsmanöver stecken könnte. Es könnte sein, dass noch weitere solche Attacken folgen, um die russischen Truppen von anderen Brennpunkten an der Front, vor allem in den Regionen Charkiw und Donezk, abzulenken. Oder um die Aufmerksamkeit von einer grösseren Operation abzulenken, die an einem anderen Abschnitt der Front geplant ist.
Der russische militärische und politische Blogger Juri Podoljaka spricht bereits von einer «Kursker Front». Seine Prognose: Weitere Angriffe in der Region werden folgen. Und: «Die Kämpfe werden brutal sein.»
Militärbeobachter meinten, die russischen Truppen seien in der Grenzregion nur schwach aufgestellt gewesen, weshalb die ukrainischen Kämpfer es leicht gehabt hätten, dort einzudringen. In der Vergangenheit hatte es solche Durchbrüche von ukrainischer Seite in der Region Belgorod gegeben. Zu den Aktionen bekannten sich Freiwilligenbataillone, die aus Russen bestehen, aber aufseiten der Ukraine kämpfen. Ziel der Ukraine könnte es aus Sicht von Experten sein, die russischen Truppen von Angriffen in dem Krieg gegen das Nachbarland abzulenken.
Wie reagiert Putin?
Russlands Präsident warf der Ukraine am Mittwoch eine «grosse Provokation vor». Im Vorfeld einer Sitzung des russischen Sicherheitsrats in Moskau behauptete der Kremlchef, ukrainische Streitkräfte würden mit unterschiedlichen Waffentypen, darunter Raketen, «wahllos» auf zivile Gebäude, Krankenwagen und Wohnhäuser schiessen.
Bei einem Treffen mit dem Verteidigungsministerium, mit dem Generalstab der russischen Streitkräfte und dem für den Grenzschutz zuständigen Inlandsgeheimdienst FSB werde er sich in Kürze weitere Lageberichte anhören, sagte er. Die Angaben liessen sich nicht unabhängig verifizieren.