Fussball-EM, Olympische Spiele und chaotische US-Wahlen: Im Schatten der sportlichen und politischen Grossereignisse lässt das Interesse am Angriffskrieg der Russen in der Ukraine nach. Von der Weltöffentlichkeit fast unbemerkt, stossen die Invasoren Kilometer um Kilometer vor.
Für ihren Erfolg setzen die Russen auf drei Strategien: auf die Masse, auf Gleitbomben und auf Motorradmanöver – ähnlich wie im Zweiten Weltkrieg. Experten sind sich einig: Für die Ukrainer wird die Lage nach knapp 900 Tagen Krieg prekär.
In den vergangenen Wochen haben die Russen Gebiete nordwestlich von Awdijiwka in Richtung des Verkehrsknotenpunkts Pokrowsk eingenommen. Ralph D. Thiele (70), Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von EuroDefense Deutschland, sagt gegenüber Blick: «Die Russen haben die Zeit genutzt, die ukrainischen Brigaden und deren Kommandanten auf deren Stärken und Schwächen hin zu analysieren. Sie nutzen derzeit jede sich bietende Möglichkeit, um Erfolge an der Front zu erzielen.»
Flinke Motorradfahrer
Zu diesen Möglichkeiten zählt etwa die Rotation von Einheiten, aber auch die Kombination von mehreren Angriffen gleichzeitig. In einem Interview mit n-tv.de beschreibt der österreichische Militärexperte Markus Reisner (46), wie das ablaufen kann. So schickten die Russen zum Beispiel einen improvisiert verstärkten Kampfpanzer – einen «Turtle-Tank» – los, der von zwei, drei Schützenpanzern begleitet werde. Während die kleine Gruppe das gegnerische Feuer auf sich ziehe, komme es an andern Orten zu Vorstössen.
An den Vorstössen seien oft Motorräder beteiligt, ähnlich wie im Zweiten Weltkrieg, wo Motorradaufklärungsregimente mit Erfolg eingesetzt worden seien, sagt Reisner. Ungeschützt, dafür schnell und somit für Drohnen schwer zu treffen, rasen die russischen Fahrer ins feindliche Gebiet. Da loten sie aus, wo es ein leichtes Durchkommen gibt, und besetzen angegriffene Stellungen.
Wo bleiben die Waffen?
Zurzeit, so rechnen westliche Experten, stehen auf russischer Seite in der Ukraine mindestens 520'000 Mann im Einsatz. Bis Ende Jahr könnten es 690'000 sein. Laut Thiele liegt die personelle und materielle Überlegenheit der Russen bei bis zu sieben zu eins. Thiele: «Seit der Unterbrechung der Waffenlieferungen aus den USA im vergangenen Herbst sind die Streitkräfte der Ukraine stetig auf dem Rückzug.»
Zurzeit träfen westliche Lieferungen «nur scheibchenweise und unregelmässig in begrenzten Paketen» ein, sagt Thiele. Gefragt seien besonders Luftverteidigungssysteme, Artillerie, Panzerabwehrwaffen, Himars-Raketen, Sprengstoff, Präzisionsmunition für luftgestützte Einsätze sowie auch Satellitenbilddienste. Auf der russischen Seite, so rechnet das Institut for the Study of War (ISW), dürfte Nordkorea verstärkt Waffen liefern – vor allem Panzerabwehrraketen.
Inzwischen scheint sich auf ukrainischer Seite das Personalproblem etwas zu entschärfen. «Das ukrainische Verteidigungsministerium gab kürzlich bekannt, dass sich insgesamt 4,7 Millionen Männer zur Rekrutierung gemeldet haben», sagt Thiele. Kiew hatte einerseits die Strafen für eine Wehrdienstverweigerung verschärft und andererseits die finanziellen Anreize erhöht. Das Problem ist allerdings, dass es nebst einem Mangel an Waffen auch zu wenig Ausbildungsplätze gibt.
Heimtückische Gleitbomben
Eine weitere Stärke der Russen sind ihre Gleitbomben, von denen sie täglich bis zu hundert Stück einsetzen. Wegen der mangelhaften Luftabwehr der Ukrainer richten sie massiven Schaden an. Angriffe auf russische Flugplätze, von wo russische Maschinen mit den bis drei Tonnen schweren Bomben starten, erlaubt ihnen der Westen mit den gelieferten Waffen nicht.
Zwar gelingt den Ukrainern immer wieder ein schmerzhafter Schlag, so in der Nacht auf Dienstag, als sie in der russischen Region Kursk ein Öllager in Flammen schossen. Doch für die Ukrainer wirds prekär. Weltweit schwindet das Interesse am Krieg. «Zudem lassen bevorstehende Wahlen deutlicher hervortreten, dass das Wahlvolk der Politik beidseits des Atlantiks bezüglich der Ukraine-Unterstützung erkennbar die Gefolgschaft verweigert», sagt Thiele.
Aus diesem Grund thematisiere selbst der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) einen Waffenstillstand. Thiele: «Ausbleibende Erfolge an der Front dürften diese Entwicklung forcieren. Da helfen auch keine kinetischen Eintagsfliegen – sprich Bombardierungen seitens der Ukrainer – weit hinter der Front.»