«Perfide Umkehr der Täter- und Opferrollen»
Putin ändert plötzlich seine Propaganda-Strategie

Das Narrativ der «Entnazifizierung» greift nicht bei der russischen Bevölkerung. Ein neuer Grund für den Krieg muss also her – und ist schnell gefunden.
Publiziert: 07.12.2022 um 17:14 Uhr
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Aktualisiert: 07.12.2022 um 22:17 Uhr
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In der russischen Region Kursk an der Grenze zur Ukraine ist ein Flugplatz mit Drohnen angriffen worden. Dabei geriet ein Öltank in Brand.
Foto: IMAGO/Sipa USA
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Beinahe neun Monate lang war Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine für die russische Bevölkerung eine «Spezialoperation», weit weg von der Heimat. Am Dienstag hat die Realität des Kriegs dann – wortwörtlich – auch in Russland eingeschlagen. Innert zwei Tagen wurden drei Flugplätze in Russland mittels Drohnen attackiert. Am Montag zuerst der Djagilewo-Flugplatz in der Region Rjasan und der Engels-Flugplatz in der Region Saratow. Am Dienstag folgte der Platz in Kursk. Drei Soldaten kamen ums Leben.

Wladimir Putin (70) liess eine Krisensitzung seines Sicherheitsrates einberufen. Und auch der Kreml reagierte prompt, wie das Institute for the Study of War (ISW) berichtet. Denn das neue Propaganda-Narrativ der Regierung heisst nicht mehr «Entnazifizierung der Ukraine», sondern «Verteidigung Russlands vor dem Westen» – und der Ukraine. «Es besteht die Möglichkeit, dass die russischen Behörden die Verteidigungsvorbereitungen innerhalb Russlands fördern, um patriotische Gefühle zu wecken», so das britische Verteidigungsministerium in ihrem Bericht.

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Der Grund: Das eigene Volk glaubt der Regierung nicht mehr. Nur noch 25 Prozent der Russen stehen hinter Putins Ukraine-Krieg. 55 Prozent sind für Friedensverhandlungen. Das zeigt eine geheime Kreml-Umfrage, die publik wurde.

Die Rechtfertigung für diesen Krieg steht auf wackeligen Beinen, erklärt Ulrich Schmid (56), Slawist an der Universität St. Gallen. «Das Narrativ, man wolle die Ukraine ‹entnazifizieren›, hat in der breiten Bevölkerung kaum verfangen. Nun steht das Narrativ, Russland stehe in einem Krieg gegen den Westen und vor allem gegen die Nato, im Vordergrund», sagt Schmid zu Blick.

In den Worten der ISW-Experten: «Der Kreml scheint von der begrenzten Kriegsberichterstattung abzuweichen, mit der er die Besorgnis der russischen Öffentlichkeit über den Krieg verringern wollte.»

«Eine perfide Verkehrung von Täter- und Opferrollen»

Hinter der Änderung der Propaganda-Strategie könnte aber noch mehr stecken. Und zwar, die Russen auf eine zweite Mobilmachung vorbereiten. Auch Frithjof Benjamin Schenk (52), Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Basel, sagt gegenüber Blick: «Die Beschädigung russischer Militärbasen wird von der Regierung als Vorwand genutzt, um die eigene Bevölkerung für einen vermeintlichen ‹Verteidigungskrieg› zu mobilisieren. Das ist natürlich eine perfide Verkehrung von Täter- und Opferrollen.»

Zumindest an der russisch-ukrainischen Grenze scheint dies Wirkung zu zeigen. Die Oblast Kursk hat die Bildung von Territorialverteidigungseinheiten angekündigt und damit «viele Zivilisten unter der absurden Prämisse eines ukrainischen Bodenangriffs auf die russischen Grenzregionen dem Krieg ausgesetzt», so ISW.

Keine Angst vor landesweiten Protesten

Dass Russland mit einer zweiten Mobilmachung seine Kriegsziele erreicht, halten beide Experten für unwahrscheinlich. «Die Ukraine wird nach acht Jahren Krieg kaum einen russischen Diktatfrieden akzeptieren. Zudem könnte eine zweite grosse Mobilisierung von Reservisten zu einer neuen Massenabwanderung junger und qualifizierter russischer Arbeitskräfte ins Ausland führen, mit entsprechend negativen ökonomischen Folgen für Russland», erläutert Schenk.

Obwohl die Zustimmung im Volk für diesen Krieg mehr und mehr schwindet, muss Putin keine landesweiten Proteste fürchten. «Viele verhalten sich diesem Krieg gegenüber apathisch und ziehen sich auf die Position zurück, dass man ohnehin keinen Einfluss auf die grosse Politik habe», erklärt Russland-Experte Schmid. Das sei zugleich ein Vorteil und ein Nachteil. «Einerseits gibt es wenig Widerstand für den Krieg, andererseits aber auch wenig Unterstützung.»

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