Geheime Kreml-Studie zeigt
Russen haben genug von Putins Krieg – sie wollen Frieden

Eine geheime Umfrage des Kremls zeigt, dass die Russen nicht mehr hinter Putin stehen. Sie wollen, dass der Krieg endet und Frieden mit der Ukraine geschlossen wird. Doch Proteste bleiben aus – ein Experte erklärt, warum das Volk nichts tut.
Publiziert: 02.12.2022 um 01:20 Uhr
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Aktualisiert: 02.12.2022 um 11:10 Uhr
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Mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung ist dafür, dass mit der Ukraine Frieden geschlossen wird. Das zeigt eine geheime Umfrage, die vom Kreml in Auftrag gegeben wurde.
Foto: keystone-sda.ch
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Jenny WagnerRedaktorin News

In der russischen Bevölkerung findet ein Umdenken statt. Eigentlich wollte der Kreml die Umfrage unter Verschluss halten. Kein Wunder: Die Zahlen sind alles andere als berauschend. Nur noch 25 Prozent der Russen stehen hinter Putins Ukraine-Krieg. 55 Prozent sind für Friedensverhandlungen. Das Sterben soll ein Ende haben.

Die Ergebnisse der Umfrage stammen vom FSO und wurden vom Kreml in Auftrag gegeben. Beim FSO handelt es sich um eine spezielle Behörde, die für den Schutz der Regierung verantwortlich ist. Und zum Beispiel Putsch-Versuche verhindern soll. Die Umfrage sollte niemals publik werden.

Das unabhängige Nachrichtenportal Meduza konnte die Daten aber leaken. Aus den Zahlen ergibt sich, dass ein Grossteil der russischen Bevölkerung gegen den Krieg im Nachbarland ist. Auch das Levada-Zentrum, das einzige grosse unabhängige soziologische Zentrum Russlands, stellt eine solche Tendenz fest: 57 Prozent waren «für» und «eher für» Friedensgespräche, 27 Prozent «für» und «eher für» eine Fortsetzung des Kriegs.

Die grossen Proteste bleiben aus

Im Juli sprachen sich gerade einmal 30 Prozent der Russen für Frieden aus. Trotz Angriff auf die Ukraine dachte sich die Bevölkerung: «Das Leben geht weiter und wird sogar besser», sagt Denis Volkov, Leiter des Levada-Zentrums. Das russische Volk hatte vor ein paar Monaten noch nicht das Gefühl, dass sie der Krieg betrifft.

In den letzten sechs Monaten hat sich die Zahl der Friedensbefürworter verdoppelt. Und trotzdem: Demonstrationen finden kaum statt, das russische Volk agiert passiv und ein Putsch ist laut Experten sehr unwahrscheinlich. Aber warum bloss?

«Russland ist heute ein totalitärer Machtstaat, in dem eine einzelne Person gegen den absoluten Herrscher nichts ausrichten kann», sagt Osteuropa-Experte Alexander Wöll (54), Slawist an der Universität Potsdam, zu Blick.

«Viele Russen erinnern sich noch gut an die chaotischen Zustände»

Jetzt sind die eigenen Risiken gestiegen. Einerseits leidet die Wirtschaft, andererseits gab es eine riesige Fluchtbewegung durch die Teilmobilmachung. Und: Die Russen verlieren immer mehr Gebiete in der Ukraine.

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Dass die russische Bevölkerung so lange hinter Putin stand, kann Wöll gut nachvollziehen. «Die 90er waren in Russland von Gewalt geprägt. Viele Russen erinnern sich noch gut an die chaotischen Zustände», so der Slawist. Als Putin an die Macht kam, änderte sich das rapide. «Zum ersten Mal in der russischen Geschichte gab es in der Bevölkerung eine Art Wohlstand». Deshalb würden viele zögern, Putin öffentlich zu kritisieren.

Der Kremlchef hat es in zwanzig Jahren geschafft, eine Mittelschicht in Russland zu etablieren. Zuvor war die Schere zwischen Arm und Reich quasi unüberwindbar. Als der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch (72) 2014 aus der Ukraine nach Russland flüchtete, kam es zum Maidan-Konflikt und auch in Russland flammten Proteste auf. Viele Menschen waren gegen die russische Militärintervention in der Ukraine. Kurz darauf wurde die Krim annektiert.

Ausgerechnet die Mittelschicht, die Putin reich gemacht hatte, wandet sich gegen ihn. «Putin musste reagieren. Russland wurde vom autoritären zum totalitären Staat – inzwischen ist er nahezu stalinistisch», stellt Wöll klar. Seit Kriegsbeginn hat Putin ausserdem dafür gesorgt, dass Proteste im Keim erstickt werden. Kritik am Kreml oder an der Politik kann Haftstrafen nach sich ziehen.

Kaum mehr Proteste seit März

Eine Demokratie kennen Russen gar nicht. Der Osteuropa-Experte zu Blick: «Die Tradition der Leibeigenschaft aus der Zarenzeit hat bis heute Spuren hinterlassen.» Das bedeutet: Es gibt einen Machthaber, der seinen Bürgern alles geben und alles nehmen kann. Ein einzelnes Menschenleben zähle nicht. «Die Russen werden ohne Waffen, ohne Ausrüstung an die Front geschickt. Das war schon im Ersten Weltkrieg so», erklärt Wöll.

Obwohl die Russen den Krieg mittlerweile nicht mehr zum Grossteil befürworten, habe das auf die Politik keinen Einfluss. Kremlnahe Quellen sagten gegenüber Meduza, dass sie keine Anti-Kriegs-Proteste befürchten. Und auch eine Statistik von OVD-Info über Festnahmen der Demonstrationen gegen den Krieg zeigt: Kaum jemand geht mehr auf die Strasse. Im März wurden 15'343 protestierende Russen festgenommen. Danach wurden die Gesetze immer wieder verschärft. Im November waren es nur 81 Protesierende.

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Dennoch sei es den Behörden ein Anliegen, «die Situation nicht aufzuheizen und die Leute unnötig zu reizen», so die Quelle. Umfragen zum Krieg sollen deshalb nicht mehr geführt werden, stattdessen soll sich die Meinungsforschung auf «positivere Themen» fokussieren. Klar ist: Die Bevölkerung will Friedensverhandlungen. Doch weder die Ukraine, noch Russland sind für Zugeständnisse bereit. Russen fürchten bereits eine neue Mobilisierungs-Welle im Winter.

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