Wladimir Putin (71) ist im Höhenflug. Nachdem er an der Kriegsfront in der Ukraine mehrere Erfolge erzielen konnte, hat er auch die «Präsidentschaftswahlen» am Wochenende gewonnen. Sein Sieg stand im Voraus fest, die Frage war nur, mit wie vielen Stimmen er gewinnen würde.
Der Sieg beflügelt den Autokraten trotzdem. Verbal hat Putin schon einmal die nächste Stufe gezündet. Er sagt, ein umfassender Konflikt mit der Nato sei nicht auszuschliessen – in diesem Fall wäre die Welt «nur einen Schritt von einem Dritten Weltkrieg entfernt». Blosse Rhetorik oder eine wirkliche Gefahr?
Experten warnen vor Sorglosigkeit. Ulrich Schmid (58), Russland-Experte an der Uni St. Gallen, geht zwar eher davon aus, dass es sich bei Putins jüngsten Aussagen um Rhetorik und einen Informationskrieg handelt. Schmid sagt zu Blick: «Kurz- und mittelfristig ist ein solch offener Konflikt unwahrscheinlich.» Grund: Die russischen militärischen Kräfte würden noch eine geraume Zeit in der Ukraine gebunden sein.
Schmid bezeichnet Putins Drohung als eine «politische Waffe». «Putin verfolgt die Debatten im Westen sehr genau und will mit seinen Drohungen das ‹Friedenslager› am rechten und linken Rand des politischen Spektrums stärken. Er rechnet mit einer Ermüdung der Unterstützung für die Ukraine.»
Warnung vor hybridem Krieg
Auch Ralph Thiele (70), Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von Eurodefense Deutschland, geht nicht von einem «beabsichtigten grossen konventionellen oder gar einem Nuklearkrieg» aus.
Aber er rechnet mit einem andern Szenario, das ebenfalls brandgefährlich sei. «Für viel wahrscheinlicher halte ich das Hineinschlittern in einen grossangelegten hybriden Krieg.» Das Problem daran: Hybrider Krieg finde überwiegend in Grauzonen statt und sei für Unkundige erst erkennbar, wenn die eigenen Abwehrmöglichkeiten bereits zerrüttet sind.
Thiele warnt daher davor, Putins Aussagen auf die leichte Schulter zu nehmen. Dessen Bedenken gegenüber der Nato seien echt. «Sorglosigkeit vonseiten des Westens ist gefährlich», sagt Thiele.
Generell muss man nach Putins Wahlsieg mit weiteren Offensiven und einer Verhärtung der politischen Lage in Russland rechnen. «Putin wird das Wahlergebnis als Mandat für die Fortsetzung aussenpolitischer Aggressionen und innenpolitischer Repressionen interpretieren», sagt Ulrich Schmid.
Strategie der Zermürbung
Thiele rechnet mit einer Strategie Putins, die auf Ermüdung und Abnützung der Ukraine sowie die Zersplitterung und Zermürbung der westlichen Unterstützung abzielt. «Putin bringt seine Truppen, insbesondere seine Fähigkeiten für einen hybriden Krieg, in Stellung. Er wird hierzu Strategien und Ansätze wählen, mit denen westliche Demokratien bislang nur unzureichend zurechtkommen.»
Mehr zu den Schreckensszenarien
Dank eigener Produktion sowie der Unterstützung aus Nordkorea und dem Iran sind Putins Munitionslager gut gefüllt. Thiele: «Das taktische Waffenarsenal Putins hinsichtlich Aufklärung, Drohnen, Luftverteidigung und elektronischer Kampfführung ist Weltklasse.» Strategisch sei er mit seinen Hyperschallwaffen und nuklearen Fähigkeiten ein bedeutender globaler Akteur.
Neue Mobilmachung?
Das Problem allerdings sind die russischen Soldaten, von denen laut dem britischen Verteidigungsministerium schätzungsweise 70'000 getötet und 250'000 verwundet worden sind. Viele Russen befürchten daher eine neue Mobilmachung. «Putin weiss zwar um die gesellschaftlichen Risiken einer solch unpopulären Massnahme, dennoch ist eine neue Teilmobilmachung in den nächsten Monaten wahrscheinlich», meint Schmid. Hunderttausende von Reservisten könnten eingezogen und an die Front in der Ukraine geschickt werden.
Thiele warnt: «Wir sollten Putin ernst nehmen. Es wird höchste Zeit, die westliche Resilienz sowie die eigenen Verteidigungsanstrengungen hochzufahren und zeitgleich nach Wegen der Deeskalation zu suchen.»