Darum gehts
Auf die katholische Kirche kann man zurzeit kein Loblied singen. Immer wieder kommen Verfehlungen ans Tageslicht, immer wieder muss man ungläubig zur Kenntnis nehmen, dass Sünder in den eigenen Reihen geduldet werden. Die Kirchenaustritte in der Schweiz erreichen Rekordzahlen.
Ist die katholische Kirche ein Auslaufmodell? In der Schweiz und in Europa dürfte sich der Abwärtstrend fortsetzen. Weltweit aber legen die Katholiken mächtig zu. Nur der Islam überflügelt die Katholiken.
Es ist hauptsächlich der sexuelle Missbrauch, der in der Schweiz zu Rekordaustritten führt. 2023 haben 67’497 Katholiken ihrer Kirche den Rücken zugewandt – 2,6 Prozent aller Mitglieder. Die Kirche hat seit dem Höchststand von 2014 über 300’000 Mitglieder verloren. Im Verhältnis zur Bevölkerung ist der Anteil der Katholiken in 50 Jahren von 46,7 auf 30,7 Prozent geschrumpft.
Starkes Wachstum in Afrika
Doch: Während die Katholiken in der Schweiz und Europa auf dem Rückzug sind, nimmt ihre Zahl weltweit zu. In den vergangenen Jahren ist sie von schätzungsweise 1,12 Milliarden auf über 1,4 Milliarden angestiegen. Vor allem Afrika trägt zum Wachstum bei.
Arnd Bünker (55), Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen, erforscht die Entwicklung der Kirche. Er hat für das Wachstum der katholischen Kirche eine einfache Erklärung: «Heute wird die Religionszugehörigkeit mehrheitlich vererbt. Weil in Afrika und Asien die Bevölkerung stark wächst, steigt auch die Anzahl der Katholiken stark an. In Europa sinkt sie.»
Einen Zuwachs von aussen, wie zur Zeit der Kolonisierung, als stark missioniert wurde, gibt es laut Bünker heute hingegen nicht mehr. Ebenfalls müsse man berücksichtigen, dass der Anteil der Katholiken an der steigenden Weltbevölkerung bei rund 17,7 Prozent stagniert.
Ruf nach afrikanischem oder asiatischem Papst
Wegen der steigenden Zahlen vor allem in Afrika und Asien gelten bei der kommenden Papstwahl Fridolin Ambongo Besungu (65), Erzbischof von Kinshasa (Kongo), und Luis Antonio Tagle (67), ehemaliger Erzbischof von Manila (Philippinen), als heisse Anwärter. Vatikan-Experte Marco Politi (78) sagt gegenüber SRF: «Besungu stammt aus jenem Land, in dem die katholische Kirche vielleicht so wichtig ist wie nirgendwo sonst auf der Welt – auch in politischer Hinsicht.» Und in Südostasien wünsche man sich einen «asiatischen» Franziskus, einen, der sich für eine weniger eurozentrische Kirche einsetze.
Wegen der wachsenden Weltbevölkerung dürften die meisten grossen Religionen in absoluten Zahlen zulegen. Im Verhältnis zur Weltbevölkerung wird sich laut Prognosen des Pew Research Center aber der Islam am meisten ausbreiten. 2020 betrug sein Anteil noch 23 Prozent, 2050 werden es gegen 30 Prozent sein. Damit wird er dem Anteil aller christlichen Kirchen gleichkommen.
Bünker weist darauf hin, dass Zahlen nur geschätzt werden können. Denn im Gegensatz zur Mehrzahl der Schweizer Kantone, wo man Mitglied der Kirche ist, gilt man in andern Ländern allein durch die Taufe und ohne Registrierung als Katholik. «So ist man zum Beispiel in Afrika das Leben lang Katholik. Ein Austritt aus der Kirche ist wegen der nicht vorhandenen strukturellen Mitgliedschaft gar nicht möglich.»
Ruf nach dem Heiligen Geist
Die katholische Kirche ist äusserst vielfältig. Sie umfasst Kulturen von den Inuit im Norden über Afrika bis zu Australien und Südamerika. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Strömungen. Auffallend ist laut Bünker aktuell das Wachstum der pfingstkirchlich geprägten Katholiken vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika. Bei diesen Gläubigen nimmt der Heilige Geist eine zentrale Rolle ein.
Als Grund nennt Bünker die Globalisierung und kulturellen Veränderungsprozesse, die die Menschen vom Land in die grossen Städte treiben. «In solchen unendlichen Betonwüsten ist pfingstkirchliche Spiritualität oft eine wichtige Ressource, die Halt gibt.»
Generell nimmt die Kirche in vielen armen Ländern, wo die soziale Absicherung gering ist, eine wichtige Rolle ein. Bünker: «Sie ist oft der einzige Ort, wo man Gemeinschaft erlebt, eine Absicherung hat und wo sich Menschen für einen interessieren.»
Schweizer Kirche muss sich anpassen
Für den Papst ist diese Vielfalt eine grosse Herausforderung. Eine, die Franziskus (†88) bestens gemeistert habe, meint Bünker. «Im Gegensatz zu Johannes Paul II. wollte er nicht alles von oben kontrollieren, sondern reagierte als Argentinier mit der entsprechenden Erfahrung sehr sensibel auf die Vielfalt der Kulturen.»
Damit die katholische Kirche auch in der Schweiz wieder an Attraktivität gewinnt, müsse man sich von heutigen Vorstellungen der Kirche verabschieden, meint Bünker. «Wir müssen spiritueller werden und uns radikal auf eine Gesellschaft einlassen, die hoch individualisiert und von Freiheit geprägt ist.»