In der Schweiz wütet die Pandemie – mit über 300'000 Corona-Fällen und mehr als 4000 Toten sieht die Bilanz im internationalen Vergleich düster aus. Ganz anders in Fernost: China meldete am Donnerstag fünf Covid-Fälle und null Tote. Noch extremer wirken Zahlen aus Taiwan: Das 24-Millionen-Einwohner-Land hat sieben Tote zu beklagen – seit Beginn der Pandemie. Und das ohne Lockdown.
Kein Wunder, wird Asien als Vorbild in der Corona-Krise gepriesen. Doch ist das gerechtfertigt? Asien als grosses Idol? Einspruch, Euer Ehren!
Da ist im Falle Taiwans die Geografie. Der Inselstaat hat im Vergleich zur Schweiz einen entscheidenden Vorteil: Einreisende können auf dem See- und Luftweg problemlos abgefangen und kontrolliert werden. Im Schengen-Raum ist das erheblich schwieriger.
Hinzu kommt der kulturelle Unterschied: Viele ostasiatischen Länder haben hoch strukturierte, konformistische Gesellschaften mit teilweise tief verankerten ethnischen Ressentiments. Was die Seuchenbekämpfung schon mal erleichtert. Viele der Ausländer sind Expats aus dem Westen, die in «Gated Communities» leben, abgeschotteten Siedlungen. Regierungen in Singapur oder Taipeh stecken diese High-End-Gastarbeiter für 14 Tage zur Isolation in Luxushotels. Auch die soziale Kontrolle ist ungleich höher als hier – ideale Voraussetzungen für den Kampf gegen die Pandemie also.
Abriegeln nicht möglich
Die Schweiz hingegen ist ein hoch vernetzter Kleinstaat mit einer für Europa enormen Bevölkerungsdichte; pulsierende Grenzregionen wie der Genfersee, Basel oder das Tessin lassen sich nicht abriegeln wie ein Eiland im Chinesischen Meer.
Die Bevölkerung in Genf besteht zu zwei Fünfteln aus Ausländern, in Zürich zu 27 Prozent – gemessen an der Einwohnerzahl sind beides Weltstädte. Vom indischen IT-Experten über die deutsche Pflegerin bis zum bosnischen Versicherungsmakler leben hier bestens integrierte Menschen mit regen Kontakten in die ursprüngliche Heimat. Jeder zehnte Kosovare lebt in der Schweiz, über 300'000 Italiener und noch einmal genauso viele Deutsche. Bundesbern kann für sie nicht einfach die Grenzen dichtmachen.
Ausserdem sind Pandemien in Asien relativ häufig. Die meisten Bewohner hatten schon einmal Umgang mit Seuchen. Während der Sars-Epidemie 2003 war Taiwan mit 346 Infizierten und 73 Toten eines der am stärksten betroffenen Länder, während die Schweiz verschont blieb. So tragisch der Ausbruch damals war – nun entpuppt er sich als wertvolle Erfahrung.
Überdies sind sich die Asiaten das Maskentragen ohnehin gewohnt; eine Querdenker-Szene wie hierzulande ist dort unvorstellbar.
Unbestreitbar aber ist der Schweizer Rückstand in der Digitalisierung. Die Differenz ist augenscheinlich. Ob beim Rendezvous, während des Geschäftsessens oder am Kindergeburtstag: Asiaten haben stets ein Smartphone vor dem Gesicht. «Digital first», heisst es von Seoul bis Shanghai.
Asien ist erfolgreicher
Dabei bleibt die Privatsphäre weitgehend auf der Strecke – lieber auf dem staatlichen Radar als im sozialen Funkloch. Kein Wunder, sind technologische Unterschiede in der Covid-Bekämpfung riesig. «Die asiatischen Länder sind hier viel erfolgreicher als die europäischen», sagt Jürgen Schmidhuber (57), wissenschaftlicher Direktor des Forschungsinstituts für künstliche Intelligenz in Lugano.
In Überwachungsstaaten wie China, Singapur oder Taiwan würden Smartphone-Daten ohne Rücksicht auf den Datenschutz ausgewertet, um etwa Infektionsketten nachzuvollziehen.
Zur Einhaltung der Quarantänebestimmungen wird man in Taiwan während der 14-tägigen Isolation per Funkzellenortung überwacht. Wer seinen Standort verlässt, bekommt zuerst ein Warn-SMS. Wird es ignoriert, ist mit behördlichem Besuch zu rechnen. Zudem greift der Staat – in der Schweiz undenkbar – auf die Daten des Mobiltelefons zu, um Bewegungsprofile zu erstellen.
In einigen Ländern ist die Überwachung geradezu geheimdienstlich: Bewegungsprofile werden mit Kreditkartenabrechnungen, Chatverläufen und Aufnahmen öffentlicher Überwachungskameras abgeglichen. Wo immer man sich aufhält – vom Büro bis zur Bar –, registriert man sich per QR-Code. Schönes neues Asien!
Kein Lockdown in Taiwan
Was an Horrorvisionen wie George Orwells «1984» erinnert, im Kampf gegen die Pandemie ist es ausserordentlich wirksam. Am 12. April verzeichnete Taiwan die letzte lokale Corona-Übertragung. Auf ein Lockdown konnte komplett verzichtet werden.
Und wie sieht es in der Schweiz aus? Andréa Belliger (50) ist Sozial- und Kommunikationswissenschaftlerin in Luzern und spezialisiert auf die Themen digitale Transformation und eHealth. Sie sagt: «Technische Möglichkeiten werden in der Schweiz fast gar nicht genutzt, da es sie nicht gab und gibt.» Belliger bemängelt, wie hierzulande technologisch auf die Pandemie reagiert wird.
So hätten im April trotz gesetzlicher Vorgaben keine elektronischen Patientendossiers zur Verfügung gestanden. Die Corona-App sei zu spät eingeführt worden. Eine technologische Infrastruktur zur Vernetzung der unterschiedlichen Leistungserbringer sei bis heute quasi inexistent.
«Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern ein digitales Entwicklungsland», sagt Belliger.
Paradebeispiel sind die Faxgeräte des Bundesamts für Gesundheit, mit denen sich die Behörde im Frühjahr zum Gespött machte. Doch auch Bellinger räumt ein: «Es braucht mehr als Technologie zur Eindämmung einer Pandemie.»
Innovationskraft immer noch im Westen
Doch trotz allen technischen Vorsprungs: Die grösste Innovationskraft kommt nach wie vor aus dem Westen. Keine der weltweit führenden zehn Hochschulen liegt in Asien. Es sind Unis in den USA, in England und – dank der ETH Zürich – in der Schweiz.
Impfstoffe sind bis dato fast ausnahmslos von amerikanischen und europäischen Pharmakonzernen angekündigt worden – im Fall der Walliser Lonza auch mit Schweizer Beteiligung.
Das Ende der Pandemie wird also im Westen eingeläutet.
Fernost hingegen, genauer Wuhan in China, wird als deren Ursprung in die Geschichte eingehen.
All dies gilt es zu beachten, bevor man Asien als Vorbild beschwört.