Wie haben Sie das geschafft, Ministerin Tang?
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Das Corona-Wunder von Taiwan:Wie haben Sie das geschafft, Ministerin Tang?

Das Wunder von Taiwan – bis heute nur 7 Corona-Tote
Wie haben Sie das geschafft, Ministerin Tang?

Taiwan drohte die Corona-Katastrophe. Dass es nicht dazu kam verdankt der ostasiatische Inselstaat einer ungewöhnlichen Politikerin.
Publiziert: 29.11.2020 um 01:23 Uhr
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Aktualisiert: 30.01.2021 um 19:32 Uhr
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2016 wurde Audrey Tang zur Digitalministerin berufen – sie war nicht nur die jüngste Ministerin Taiwans, sondern auch weltweit der erste Transmensch in diesem Amt.
Interview: Fabienne Kinzelmann

Dicht besiedelt, nah an China, nicht in internationalen Organi­sationen vertreten. Doch wegen Digitalministerin Audrey Tang (39) steht kein Land in Sachen Corona besser da als Taiwan. Die Ex-Programmiererin hat die Pandemie mit schlauen Datenlösungen «gehackt» – und lässt sich vor dem Skype-Interview von SonntagsBlick das Einverständnis ­geben, das ­Video auch auf ihrem Youtube-Kanal hochzuladen. Das ist Teil ihrer Trans­parenzverpflichtung.

SonntagsBlick: In den sozialen Netzwerken gibt es Festival­fotos aus Taiwan. Sind die echt?
Audrey Tang:
Natürlich! Die stammen nicht aus 2019. Das sind echte Menschen, die richtig feiern. Wir hatten auch eine grosse Pride Parade.

Aus europäischer Sicht unvorstellbar.
Wir haben seit über 200 Tagen keine Ansteckungen ­innerhalb des Landes mehr. Ich habe sogar vergessen, wie lange genau … Wir haben Corona längst überwunden.

Was bedeutet das im Alltag?
Die Taiwanesen müssen ­keine Maske tragen. Viele tragen sie aber im öffent­lichen Verkehr und nutzen Masken wie ein Accessoire. Ich habe auch eine in Regenbogenfarben oder in Pink. Neben Abstandsregeln ist das Fiebermessen entscheidend. Wenn ich das Regierungsgebäude betrete, muss ich zuerst meine Temperatur messen. Ansonsten ist das Leben normal.

Ihr Vorteil ist, dass ­Taiwan eine Insel ist. Und ­wegen des Ausbruchs von Sars 2003 pandemieerfahren.
Klar. Wir benutzen das Playbook, das wir nach «Sars 1.0», wie ich es nenne, zusammen entwickelt haben. Damals haben wir alles falsch gemacht: Lokale und nationale Regierung haben sich nicht abgesprochen, es wurde ein unbegrenzter Lockdown verhängt, es gab Masken-Hamsterkäufe … Es waren wirklich nicht unsere besten Tage. Taiwan hat später ein Epidemie­gesetz entwickelt, die Massnahmen werden jährlich ­geprobt. Als dann taiwa­nesische Ärzte Ende letzten Jahres dank des chinesischen Whistleblowers Dr. Li Wenliang von einer mysteriösen Lungenerkrankung in Wuhan erfuhren, haben bei uns alle Alarmglocken geschrillt.

Sie haben auch umgehend ein E-Mail an die Welt­gesundheitsorganisation WHO geschickt. Was ist dann passiert?
Wir haben nichts gehört. Wir selbst haben aber ab dem 1. Januar Gesundheitschecks für Einreisende durchgeführt.

Was macht Taiwans Corona-Erfolgsrezept aus?
Wir haben früh verstanden, dass wir die Reproduktionszahl auf unter 1 drücken können, wenn drei Viertel der Leute den ganzen Tag eine Maske tragen und ihre Hände ordentlich waschen. Einen Lockdown brauchten wir nie.

Gab es Maskengegner oder Verschwörungstheorien?
Natürlich. Aber wir haben den Menschen bewusst kommuniziert, dass sie eine Maske tragen sollten, um sich vor ihren eigenen, ungewaschenen Händen zu schützen. Niemand würde sagen, dass man sich häufiger ins Gesicht fasst, wenn man eine Maske trägt – deshalb war die Botschaft sehr effektiv.

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Sie sind Digitalministerin – «ohne Portfolio». Warum sind ausgerechnet Sie in der Corona-Krise so entscheidend?
Es gibt hier im taiwane­sischen Kabinett neun Minister ohne Portfolio oder, wie ich sie lieber nenne, «horizontale Minister». Wir arbeiten an den Schnittstellen zwischen den Departments. In meinem Büro sitzen ein Dutzend Vertreter der Ministerien. Ich habe zum Beispiel sichergestellt, dass die Kommunikation zwischen dem Wirtschaftsministerium, das sich um die Maskenproduktion kümmert, und dem Gesundheitsministerium, das die Masken an Apotheken verteilt, wirklich gut ist. Wir setzen überall auf die Analyse von Open Data und den Einsatz von neuen Technologien. Zum Beispiel kann man auf dem Smartphone jederzeit nachschauen, in welcher Apotheke noch wie viele Masken verfügbar sind. Beim Maskenkauf muss man seine Gesundheitskarte vorlegen und darf nur eine bestimmte Anzahl kaufen. Die sind übrigens auch so günstig, dass sie sich jeder leisten kann.

Mussten Sie Einschnitte beim Datenschutz machen?
Nein. Denn wir sammeln ­keine Daten, die wir nicht schon vor der Pandemie gesammelt haben. Wir be­nutzen die Pandemie nicht als Entschuldigung, um die Bürger zu überwachen.

Welche Daten sammeln Sie denn immer?
Ein Beispiel: Mobilfunk­anbieter erfassen für das ­Mobilnetz die Signalstärke eines Telefons zu einem Mobilfunkturm. Mit diesen Daten lässt sich ungefähr der Radius eines Standpunkts auf 50 Meter erfassen. Diese Daten benutzen wir auch bei Flutevakuierungen oder bei der Erdbebenprävention. In der Pandemie benutzen wir sie, um die Quarantäne durchzusetzen. Wer in Quarantäne muss, kann zu Hause bleiben, und sein Handy wird in dieser Zeit geortet. Befindet sich das Handy ausserhalb des Radius oder wird der Akku leer, kommt ein ­lokaler Gesundheits­beamter vorbei. Wir nennen es ­«digitale Gitter».

Und die Bevölkerung akzeptiert das Tracking einfach so?
Ja, es ist sehr akzeptiert. 91 Prozent der Bevölkerung stimmen der Methode zu, weil die Gesetze dafür schon vor der Pandemie durchs Parlament beschlossen und nicht per Notrecht durchgesetzt werden mussten. Es gab aber auch noch eine öffentliche Anhörung im Parlament, und es wurde genau erklärt, wie das System funktioniert und wie die Mobilfunkanbieter die Daten schützen. Nach 14 Tagen Quarantäne wird das digitale Gitter auch vollständig aufgehoben.

Tauschen Sie sich mit anderen Ländern aus? Hat sich die Schweiz schon einmal bei Ihnen gemeldet?
Es gibt international viel ­Zusammenarbeit. Vor der WHO-Versammlung im Mai haben wir eine «Vorkon­ferenz» abgehalten und mit 14 Ländern unseren Ansatz geteilt. Ich hatte persönlich nie Kontakt mit jemandem aus der Schweiz, aber ich weiss, dass viele Wissenschaftler und Journalisten im Austausch sind.

Die USA und andere Länder hatten sich dafür eingesetzt, dass Taiwan an die WHO-Versammlung im November eingeladen wird. Durften Sie teil­nehmen?
Nein.

Am 21. Januar registrierte Taiwan den ersten Corona-Fall. Die meisten Neuinfektionen gab es am 27. März. Bis heute sind nur sieben Menschen an Covid-19 ­gestorben. Wegen des Konflikts mit China ist Taiwan nicht in der WHO.

Nur sieben Menschen sind in Taiwan bislang an Covid-19 gestorben. Macht es Sie wütend, dass die WHO Sie wegen des Konflikts mit China kaum beachtet?
Hauptsächlich macht es mich traurig. Wenn wir auf ministerieller Ebene Zugang zu internationalen Organisationen hätten, hätten wir Menschen retten können. Während der Whistleblower Li Wenliang im eigenen Land gemassregelt wurde, hätten wir seine Informationen besser verbreiten können. Stattdessen gab es weltweit noch grosse Versammlungen, als wir längst in Alarmbereitschaft waren.

Was denken Sie, wenn Sie von den Fallzahlen und überfüllten Spitälern in Europa hören?
Wir kennen das ja leider. Wir wissen von Sars 2003 genau, wie sich das anfühlt. Und es war verheerend. So was wollten wir nie wieder erleben. Deswegen haben wir unser Vorgehen rechtzeitig entwickelt. Und deswegen haben wir nicht nur Masken nach Europa geschickt, sondern teilen auch unser Know-how.

Ist Europa zu fixiert auf den Datenschutz, um es wie Taiwan zu machen?
Ich finde es auch wichtig, dass man die Datenprivatsphäre und Sicherheit im Netz nicht im Namen der Pandemie unterläuft. Deswegen sammeln wir keine Daten im Namen der Pandemie und deswegen setzen wir beim Contact Tracing auf analoge Methoden. Wenn du ausgehst, musst du zwar ­einen Kontakt hinterlassen, aber wir stellen sicher, dass das vernichtet wird. Durch die Erdbebenprävention haben die Taiwanesen schon ein Verständnis für die Daten, die gesammelt werden. Die Menschen sind einverstanden damit, dass dieselben Daten jetzt zur Eindämmung der Virusausbreitung verwendet werden. Es ist aber wirklich wichtig, dass die Normen dafür schon vorher gesetzt wurden.

Das müsste Europa also machen, sobald Corona vorbei ist.
Exakt. Wir alle müssen uns auf eine neue Pandemie vorbereiten oder eine Mutation des Coronavirus. Weil so viele infiziert wurden, ist das leider wahrscheinlich. Vielleicht hilft uns dann auch die Coronavirus-Impfung nicht mehr, die hoffentlich innerhalb des nächsten halben Jahrs grossflächig verfügbar ist.

Wie sieht Ihre Impf­strategie aus?
Wir entwickeln eigene Impfungen, haben uns aber auch der Impfallianz angeschlossen. Wir haben schon 400 Millionen US-Dollar für etwa 1,5 Millionen Dosen budgetiert. Damit können wir unser medizinisches Personal und die Verwundbarsten schützen. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, bekommen wir den Impfstoff als Letzte.

Weil niemand Corona besser kann als Sie.
Ja – ausser die Antarktis.

Trotzdem verschärfen Sie jetzt die Massnahmen. Ab 1. Dezember müssen die Taiwanesen wieder an mehr Orten Maske tragen. Warum?
Wir gehen davon aus, dass sich das Virus im Herbst und Winter leichter verbreitet. Also versuchen wir dies zu verhindern, bevor wir wieder mehr Fälle haben. Ich glaube, die Menschen verstehen das.

Taiwan hat eine Staatspräsidentin, Sie selbst definieren sich zwischen den Geschlechtern. Inwiefern spielt das bei der Krisenbewältigung eine Rolle?
Unser Kommunikationsstil ist empathischer. Unser Gesundheitsminister Chen Shih-chung reagiert zum Beispiel selbst auf die unmöglichsten Fragen und Vorstösse menschlich und humorvoll. Im April hat sich etwa ein Junge gemeldet, der nicht zur Schule gehen wollte, weil er nur pinke Masken hatte. Ihm war das peinlich, weil alle seine Klassenkameraden blaue hatten. Am nächsten Tag trugen Chen und alle anderen Gesundheitsbeamten – egal, welchen Geschlechts – bei ­einer Pressekonferenz einen pinken Mund-Nase-Schutz. Chen sagte sogar, dass der rosarote Panther sein Kindheitsheld war. Pink war danach für eine Weile die beliebteste Farbe.

Wenn Sie auf die ver­gangenen elf Monate zurückblicken: Ist Corona eigentlich harmloser oder schlimmer als erwartet?
Definitiv schlimmer als Sars. Mit asymptomatischen Über-tragungen hatten wir nicht gerechnet. Deshalb sind auch Masken und Hygiene so viel wichtiger als damals.

Gibt es etwas, was Sie noch herausfordert?
Die Impfungen sicherlich. Bei der Lagerung wegen der notwendigen Temperatur. Und bei der Verteilung müssen wir sicherstellen, dass wir wirklich die schutzbedürftigsten Gruppen zuerst impfen. Das wird eine logistische Herausforderung.

Von Vietnam bis Japan: Der gesamte ostasiatische Raum schneidet in Sachen Corona gut ab. Die jeweiligen Regierungen – besonders China – stehen jedoch teilweise wegen ihrer Überwachungsmethoden massiv in der Kritik.
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