Wie aus dem Nichts kam der Grossangriff der Hamas am 7. Oktober. Die Terrorgruppe feuerte Tausende Raketen auf Israel, während am Boden bewaffnete Terroristen vorrückten. Die Terroristen drangen in Kibbuze sowie Städte wie Aschkelon, Sderot und Ofakim vor, töteten Zivilisten auf der Strasse.
Bei der «Operation Al-Aksa-Flut» wurden mehr als 1400 Menschen getötet und über 230 Geiseln genommen. Israel schien völlig überrascht von der Attacke. Der Grund: Die Hamas wurde unterschätzt, das zeigen Recherchen der «New York Times».
So wurde zum Beispiel nicht einmal mehr der Funkverkehr der Hamas abgehört. Der israelische Nachrichtendienst hatte das Abhören bereits ein Jahr vor dem Grossangriff eingestellt, weil die Agenten es für Zeitverschwendung hielten.
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Israel verliess sich auf Luftabwehrsystem
Der israelische Militärgeheimdienst und der nationale Sicherheitsrat waren sich seit Mai 2021 einig, dass die Hamas es nicht wagen würde, Israel anzugreifen, weil sie angeblich einen verheerenden Gegenangriff fürchtete. Das bestätigen fünf Quellen, die anonym bleiben möchten, gegenüber der «New York Times».
Gleichzeitig hatte Israel den Iran und die Hisbollah als grösste Bedrohung im Visier. Auch die US-Geheimdienste hatten die Hamas nicht mehr auf dem Schirm, weil sie glaubten, die Gruppe sei eine regionale Bedrohung, die Israel unter Kontrolle habe.
Und so konnten sich die Hamas-Terroristen in aller Ruhe vorbereiten, Ziele auskundschaften und Kämpfer für die Attacke trainieren. Die israelischen Behörden wiegten sich in Sicherheit und vertrauten auf ihr Luftabwehrsystem und Grenzbefestigungen, um die Hamas in Schach zu halten.
Hochrangige israelische Militärs glaubten, dass die Kombination von Fernüberwachungs- und Maschinengewehrsystemen mit der gewaltigen Mauer ein Eindringen nach Israel fast unmöglich mache. Eine fatale Fehleinschätzung. Die Hamas schaltete mit Sprengstoffdrohnen Mobilfunkantennen und die ferngesteuerten Schiesssysteme einfach aus, die den Zaun zwischen dem Gazastreifen und Israel schützen sollten.
Dabei gingen die Terroristen so präzise vor, dass es die israelischen Soldaten nicht glauben konnten. «Alle unsere Bildschirme wurden in fast genau derselben Sekunde ausgeschaltet», werden Soldaten von der «New York Times» zitiert.
Netanyahu ist sich keiner Schuld bewusst
Anders als führende Repräsentanten von Militär, Geheimdienst und Verteidigungsminister Joav Galant (64) weigert sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (74) bisher beharrlich, eine Mitverantwortung für das israelische Versagen am 7. Oktober einzugestehen. «Unter keinen Umständen und zu keinem Zeitpunkt wurde ich vor kriegerischen Absichten der Hamas gewarnt. Im Gegenteil, alle Sicherheitsvertreter, einschliesslich des Militärgeheimdienstchefs und des Chefs von Schin Bet (Inlandsgeheimdienst) waren der Ansicht, dass die Abschreckung gegen die Hamas wirkt und diese eine Verständigung anstrebt», schrieb der 74-Jährige auf X, ehemals Twitter.
Diese Einschätzung sei dem Ministerpräsidenten und der Regierung immer wieder vorgelegt worden, bis zum Ausbruch des Kriegs. Am Sonntagvormittag war der Post dann nicht mehr abrufbar.
Treffen wurde abgelehnt, Warnungen ignoriert
Recherchen der «New York Times» zeigen allerdings, dass Netanyahu die Warnungen vor einer wachsenden Kriegsgefahr ignoriert habe. Zum Beispiel hätten am 24. Juli zwei hochrangige israelische Generäle versucht, zu erklären, dass Syrien, Hamas, Hisbollah oder der Islamische Dschihad einen Angriff planen könnten. Doch sie fanden kein Gehör. Netanyahu lehnte ein Treffen ab. Und das spielte der Hamas in die Karten. Mit blutigen Folgen.
Dementsprechend vernichtend ist das Urteil von Eyal Hulata, Israels nationalem Sicherheitsberater von 2021 bis Anfang dieses Jahres. Er sagte vergangene Woche in Washington bei einem Treffen: «Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden gibt, der in die Angelegenheiten des Gazastreifens involviert war und sich nicht fragen sollte, wie und wo er ebenfalls Teil dieses massiven Versagens war.»