Auf einen Paukenschlag hatte die Ukraine gehofft. Doch daraus wurde nichts. Wolodimir Selenski (45), der extra an den Nato-Gipfel in Vilnius gereist ist, wollte von den Alliierten unbedingt wissen, wann genau sein Land dem Bündnis beitreten darf. Die Nato druckste. Statt eines Datums nannte sie Bedingungen: Der Krieg muss vorbei sein, das Land demokratischer, die Armee moderner. Eine riesige Enttäuschung für den ukrainischen Präsidenten.
Und ein Geschenk an Kreml-Herrscher Wladimir Putin (70). Er ist der unverdiente Sieger von Vilnius. Denn er weiss jetzt mit Sicherheit: Solange er seinen Angriff auf die Ukraine nicht abbricht, wird die Nato ihre Türe für Selenski und sein Volk verschlossen halten. Solange auch nur ein russischer Soldat auf der Krim sein Unwesen treibt oder ein einziger russischer Panzer durch den Donbass rattert, bleibt Kiews Traum von der Nato-Mitgliedschaft genau das: ein Traum.
Verständlich, dass die ukrainische Delegation schäumte, wie Blick vor Ort in Vilnius beobachten konnte. Verständlich aber auch, dass sich die Amerikaner hinter vorgehaltener Hand über die vermeintlich undankbaren Ukrainer nervten. Schliesslich versprach die militärische Supermacht Selenski nicht nur ein neues militärisches Hilfspaket, sondern auch handfeste Sicherheitsgarantien. Sprich: mehr und modernere Waffen, mehr Training, mehr Geheimdienstinfos.
Jetzt hat die Nato ein eigenes Binnen-Meer
In Sachen «Garantien» ist die Ukraine jedoch ein gebranntes Kind. Schon im Budapester Memorandum 1994 hatten unter anderem die USA und Russland dem Land ebensolche Sicherheitsgarantien gegeben und versprochen, das ukrainische Territorium niemals anzugreifen. Im Gegenzug gab die Ukraine ihr riesiges Atomwaffenarsenal auf. Knapp 30 Jahre später bereut Kiew zutiefst, dem Sicherheitsgarantien-Gesäusel geglaubt zu haben.
Ob all dem Frust aber darf man das Kleingedruckte nicht vergessen, das beim zweitägigen Gipfel in der litauischen Hauptstadt verabschiedet wurde. Das Verfahren für einen zukünftigen Beitritt der Ukraine – wann auch immer er sein wird – hat die Nato massiv vereinfacht. Dazu hat sie einen neuen Ukraine-Rat geschaffen: ein Diskussionsforum, in dem das mächtigste Militärbündnis der Welt mit Kiew auf Augenhöhe diskutieren will. Ein «starkes Paket», fand Nato-Chef Jens Stoltenberg (64).
Stark war der Gipfel vor allem für die Schweden, die nun auch von der Türkei grünes Licht für den Nato-Beitritt erhalten haben. Die Ostsee wird damit faktisch zum Binnengewässer des Verteidigungsbündnisses. Schlechte Nachrichten für die umstellte Russen-Exklave Kaliningrad.
Neue Nato-Geheimpläne
Bestärkend war die 32. offizielle Zusammenkunft seit ihrer Gründung 1949 aber vor allem auch für die Nato selber. In Vilnius traten die 31 Mitglieder geschlossen auf. Kein Streit, keine Spaltung, keine Uneinigkeit. Und dazu noch eine Einigung über die neuen Verteidigungspläne, mit denen sich die Nato auf einen möglichen Krieg mit Russland und neue terroristische Bedrohungen vorbereiten will.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hatte das Bündnis auf solche konkreten Pläne verzichtet. Jetzt hat man sie wieder, dank der unermüdlichen Arbeit des amerikanischen Generals Chris Cavoli (59), der die rund 4000 Seiten umfassenden Anordnungen verfasst hat.
300'000 Soldaten – nicht nur zu Bürozeiten
Was genau drin steht, ist geheim. Klar ist: Die Nato wird in naher Zukunft 300'000 Soldaten in sofortiger Bereitschaft halten. Jedes Mitgliedsland wird einen Abschnitt der Nato-Aussengrenze zugeteilt bekommen, den es bewachen und notfalls verteidigen muss. Um das alles zu finanzieren, versprachen die Nato-Staaten einmal mehr, in Zukunft mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes für das Militär auszugeben. Zum Vergleich: Die Schweiz gab vergangenes Jahr 0,76 Prozent des BIP für das Militär aus.
Nette Gespräche also im friedlichen Vilnius. Ob all der Euphorie konnte man fast vergessen, dass nicht weit von hier ein blutiger Territorialkrieg tobt. Nur dank Kiews maximalem Einsatz haben die Nato-Staaten überhaupt Zeit für ihre Diskussionen. Nur dank der ukrainischen Krieger steht Putin nicht längst an der polnischen und baltischen Grenze. Die Ukraine bezahlt dafür nicht in Prozent ihres BIP, sondern in meist jungen Menschenleben. Jeden Tag.