Er muss nur noch kurz die Welt retten
Das ist der Mann, ohne den die Nato nicht kann

Jens Stoltenberg wollte gehen, schon zweimal. Doch es scheint, als komme das mächtigste Militärbündnis der Geschichte nicht ohne den drahtigen Norweger aus. Wer ist der Mann, der die Nato durch ihre schwierigste Phase seit der Gründung 1949 führen muss?
Publiziert: 08.07.2023 um 16:41 Uhr
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Aktualisiert: 08.07.2023 um 21:05 Uhr
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Jens Stoltenberg steht vor der entscheidenden Woche seiner Nato-Karriere.
Foto: AP
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Hätte Jens Stoltenberg damals – in den 1970ern als Teenager – in Oslo vehementer protestiert, hätte der heute 64-Jährige vielleicht nicht so viel zu tun. «Wir, wir singen Norwegen aus der Nato», trompetete er damals mit seinen pazifistischen Kollegen der sozialistischen Jugendbewegung im Sprechchor.

Doch der Protest nützte nichts. Norwegen ist und bleibt ein wichtiges Mitglied im Verteidigungsbündnis. Und Stoltenberg, als Generalsekretär seit neun Jahren Chef der Organisation, kommt einfach nicht zur verdienten Ruhe.

Zum zweiten Mal nach 2022 musste der frühere norwegische Premierminister vergangene Woche seinen Nato-Vertrag verlängern. Im vergangenen Jahr – er war bereits gesetzt als neuer Notenbankchef in seiner Heimat – machte ihm der russische Überfall auf die Ukraine einen Strich durch die Rechnung. Und mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch tut sich die Nato noch immer schwer, eine valable Alternative zum drahtigen Ökonomen mit den ebenso trockenen wie glasklaren Ansagen zu finden.

Stoltenbergs Antwort auf das Breivik-Attentat machte ihn weltberühmt

Stoltenberg sei zwar nicht der Einzige, der die Rolle spielen könne, sagt Karl Mueller, Militärexperte beim amerikanischen Thinktank Rand Corporation, zu SonntagsBlick. «Gerade jetzt aber ist es enorm wichtig, dass die Nato als militärisch und politisch geeinte Allianz wahrgenommen wird.» Und da sei ein krisenerprobter und erfahrener Leader an der Spitze keine schlechte Idee.

Krisenerprobt, das ist der einstige Journalist und Statistiker Stoltenberg allemal. Als Regierungschef musste er sein Heimatland trösten, als der Terrorist Anders Behring Breivik (44) im Sommer 2011 auf Utoya 69 Teilnehmende eines sozialistischen Jugendlagers erschoss. Der Sozialdemokrat Stoltenberg, einst selbst Teilnehmer an den Jugendlagern auf dieser Insel, setzte auf Bedacht statt auf Vergeltung. «Wenn ein Mann allein so viel Hass zeigen kann, stellt euch mal vor, wie viel Liebe wir zeigen können, wenn wir zusammenstehen», sagte er zu seiner trauernden Nation.

Der Satz machte ihn weltweit berühmt. Und vielleicht war es dieser Moment der Besonnenheit, den die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel (68) im Kopf hatte, als sie Stoltenberg 2014 als möglichen neuen Nato-Generalsekretär ins Spiel brachte.

Kampfansage zu Weihnachten

Besonnen blieb Stoltenberg auch 2018 bei jenem fast verhängnisvollen Dinner mit dem schäumenden Donald Trump (76). Der damalige US-Präsident drohte der Nato offen mit dem amerikanischen Austritt aus dem Bündnis, falls die anderen Mitglieder nicht endlich ihre Verteidigungsbudgets nach oben korrigierten. Stoltenberg blieb sachlich, wie immer. «Sprechautomat» schimpfen sie ihn deswegen in Brüssel, wo er mehr als 4000 Beamte beaufsichtigt.

Zu Unrecht, muss man sagen, wenn man sich an jenen Moment kurz nach Weihnachten 2022 erinnert, als Stoltenberg all seine rhetorischen Waffen zückte und zum unmissverständlichen Schlachtruf gegen den russischen Terror in der Ukraine ansetzte. «Die Währung, in der wir bezahlen müssen, ist Geld. Die Ukrainer bezahlen mit Menschenleben, jeden Tag. Wir sollten sofort aufhören, uns zu beklagen und unsere Unterstützung rauffahren. Das ist alles, was ich zu sagen habe», donnerte er in die Mikrofone.

Mehrmals seit Kriegsausbruch hat er den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45) in Kiew besucht. Er will der Ukraine aber keine falschen Hoffnungen machen. Ein Nato-Beitritt vor dem Ende des Kriegs komme nicht infrage, betonte er im Mai. Gleichzeitig werde er alles tun, um den ukrainischen Sieg herbeizuführen.

Mit Regenbogenfahnen ans Elektro-Pop-Konzert

Kein einfaches Unterfangen. Stoltenberg muss die diplomatischen Interessen von Amsterdam bis Ankara und von Vancouver bis Warschau bündeln. Erdogan, Macron, Biden und Scholz: Sie alle reden ihm drein. Die Türken streiten mit den Schweden. Die Franzosen kritisieren die Gesamtstrategie. Die Balten wollen mehr Truppen. Die Westeuropäer wollen nicht zahlen. Die Polen stellen sich quer, die Ungarn auch. Die Ukrainer wollen rein. Die Russen drohen mit Atomschlägen. Herrgott noch mal!

Den Ausgleich zu all dem geopolitischen Wahnsinn findet Stoltenberg daheim in der Natur. «Endlich mal wieder Sonne», strahlt er in die Selfiekamera und zeigt seinen 140'000 Instagram-Followern die norwegische Bergwelt. Er geht langlaufen, joggt frühmorgens vor dem Besuch im Weissen Haus durch Washington, besucht zwischendurch mit Regenbogenfahnen in der Hand ein Konzert des Elektro-Pop-Duos Smerz, mit dem seine Tochter durch Europa tourt.

Nur mit dem Besuch in Shanghai, wo sein Sohn Chinesisch studiert, muss er noch ein wenig zuwarten. Der Nato-Chef wäre in China kein gern gesehener Gast.

Das sind die Knackpunkte in Vilnius

Kommende Woche steht Stoltenberg erneut im Rampenlicht: Am Dienstag und Mittwoch treffen sich die Regierungschefs aller 31 Nato-Mitgliedsländer zur jährlichen Strategiedebatte in der litauischen Hauptstadt Vilnius.

Was für Versprechen kann man der Ukraine machen? Soll man im Nicht-Mitgliedsland Japan ein Büro eröffnen und damit möglicherweise die Chinesen provozieren? Wie bringt man die Türken dazu, den schwedischen Beitritt nicht länger zu blockieren? Diese Fragen werden im baltischen Sommer für hitzige Köpfe sorgen.

Stoltenberg wird überall mitdiskutieren, Antworten suchen, Lösungen ausarbeiten, viel Frust auf- und viele Hürden abbauen. Und heimlich wird er sich freuen auf das nächste Jahr, wenn er zum dritten Mal versucht, seinen Job abzugeben und endlich mehr Zeit zu haben für die Sommer an den nordischen Fjorden und die Winter auf den heimischen Loipen. Ausser natürlich, die Kollegen finden wieder keinen, der ihn ersetzen könnte.

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