Es ist ein Jahrhundertereignis: Das erst im Januar 2024 gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) erzielt bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen jeweils zweistellige Wahlergebnisse – und zieht somit beiderorts in den Landtag ein. Noch nie in der deutschen Geschichte schaffte eine neu gegründete Partei ein so gutes Wahlergebnis.
Möglich machten das aber nicht etwa die beiden Spitzenkandidatinnen Katja Wolf (48) und Sabine Zimmermann (63) – die beiden Politikerinnen waren ja kaum auf den BSW-Wahlplakaten vertreten. Der Wahlerfolg ist einzig und allein der Namensgeberin zu verdanken: der (Ex-)Linken-Ikone Sahra Wagenknecht (55). Wie schafft es die ostdeutsche Politikerin über 30 Jahre nach dem Start ihrer politischen Karriere, Deutschland noch immer so in ihren Bann zu ziehen?
Sahra Wagenknecht – immer anders als alle anderen
Der Status einer Aussenseiterin wird Sahra Wagenknecht schon früh in ihrer politischen Karriere zuteil. Klaus-Rüdiger Mai ist Publizist und Historiker, Anfang 2024 veröffentlichte er die Wagenknecht-Biografie «Die Kommunistin». Gegenüber Blick sagt er: «Die meisten Politiker werden gross, indem sie Parteisoldaten sind. Nicht Wagenknecht. Sie hat ihre Karriere damit gemacht, im Widerspruch zu ihrer Partei zu sein, ständig.»
Woher kommt dieses Faible fürs Aussenseitertum? Aus ihrer Kindheit in der DDR, so der Sozialpsychologe Christian Schneider. Er veröffentlichte 2019 in enger Zusammenarbeit mit Wagenknecht ihre Biografie. Im Gespräch mit SonntagsBlick erklärt er: Als Kind einer Ostberlinerin und eines iranischen Studenten aus Westberlin – und damit also Kind einer Alleinerziehenden – wurde ihr das Anderssein quasi in die Wiege gelegt. «Seit ihrer Kindheit führte sie dieses Aussenseiterdasein. Doch schon ganz früh hat sie entscheidende Freunde gefunden: Bücher.» Hegel, Marx und Goethe begleiteten Wagenknecht durch ihre Kindheit und Jugend – und prägten auch ihr Denken bis ins Erwachsenenalter.
DDR-Politik, statt Zukunft
Wagenknecht beginnt ihre politische Karriere in einer Zeit, in der die DDR kurz vor ihrem Ende steht, der Westen eine bessere Zukunft verspricht – Ereignisse, die nicht in ihr Weltbild passen. Als im November 1989 die Mauer fällt, besuchen beinahe alle Ostberliner den Westteil der Stadt. Nicht aber Wagenknecht. «Ich hatte ja auch vom Westen das Bild, das ich halt hatte: Kapitalismus ist eben eine Gesellschaft, wo jeder sozusagen nur seinen materiellen Vorteil sieht», erklärt sie in einer ARD-Doku.
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Egal, ob in ihrer Zeit als Vorstandsmitglied der PDS, in der Nachfolgepartei SED oder als Bundestagsabgeordnete der später daraus entstandenen Die Linke – die Opposition war immer ihr grösstes Erfolgsrezept: Anecken, gegen den Strom schwimmen, bloss keine Kompromisse eingehen. Das fängt ihr herbe Kritik ein – auch aus eigenen Reihen. Beim Parteitag 2016 werfen ihr Kritiker eine Torte ins Gesicht, um gegen ihre Flüchtlingspolitik zu protestieren. Statt Wagenknecht blosszustellen, erreichen die Tortenwerfer das genaue Gegenteil: Für ihre Anhänger wird Wagenknecht zur Märtyrerin. Dieses Image kultiviert sie über Jahre hinweg.
Und wenn man über Wagenknecht spricht, muss man auch über den ehemaligen Linken-Politiker und Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine (80) sprechen. Da sind sich die beiden Experten Mai und Schneider einig. «Ein entscheidender Wendepunkt in Wagenknechts Leben war ihre Beziehung zu Oskar Lafontaine», so Schneider. Sie verwandelte sich von der rückwärtsgewandten Sozialistin in eine Politikerin, die näher an der Gegenwart agierte. Ohne Lafontaine, da sind sich die Experten erneut einig, wäre Wagenknecht jetzt nicht an dem Punkt, an dem sie ist. «Wagenknecht und Lafontaine sind zusammen unschlagbar», so Mai.
Eigene Partei erfüllt langersehnten Wunsch
Dass Wagenknecht im Oktober 2023 schliesslich ihren Rücktritt aus der Linken bekannt gibt, ist eine logische Konsequenz. Ihre Standpunkte und die der Partei drifteten immer weiter auseinander. Im Januar 2024 ist sie offiziell Vorsitzende ihrer eigenen Partei, dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Auch diese Partei ist dezidiert anders als alle anderen, erklärt Historiker Mai: «So, wie ich das beobachte, ist das ein Parteiprinzip der stalinistischen Kaderpartei. Nichts in der Partei geschieht, was nicht über ihren Tisch geht. Und damit ist natürlich gesichert, dass es einzig und allein ihre Partei ist.»
Auch das politische Programm der Partei sticht heraus: sozioökonomisch links, soziokulturell rechts. Haltungen, die weder ganz mit linker noch rechter Politik vereinbar sind. Wagenknecht vertritt die traditionelle sozialpolitische Linke und stellt sich gegen die identitätspolitische, «woke» Linke. Das spricht viele Wählerinnen und Wähler an, die sich aktuell politisch nirgends beheimatet und von der Bundesregierung abgehängt fühlen.
Es gibt aber noch eine andere Lesart von Wagenknechts politischem Alleingang. Mit ihrer eigenen Partei und den überraschenden Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen erreicht Wagenknecht nicht nur einen politischen Meilenstein – sie erfüllt sich laut Schneider in gewisser Weise auch einen Kindheitstraum: dazuzugehören. «Es ist natürlich auch der innere Wunsch, sich ihre Gemeinschaft zu schaffen. Das ist ihre Gemeinschaft, die ist auf sie eingestellt und eingeschworen.» Wie käme man sonst auf die Idee, ein Bündnis mit dem eigenen Namen auszustatten?