Auf einen Blick
Deutschland, das ist wieder ein geteiltes Land. Keine meterhohe Betonmauer zertrennt diesmal seine Weiten, dafür aber eine unsichtbare Brandmauer. Auf der einen Seite: alle Parteien von der Linken über die SPD bis hin zur CDU. Auf der anderen Seite: die Alternative für Deutschland (AfD). Lieber redet man über- statt miteinander. «Rechtsextreme», tönt es von der einen Seite. «Kartellparteien», hallt es von drüben zurück.
An diesem Sonntag erreicht das gehässige Kräftemessen einen vorläufigen Höhepunkt. Die AfD ist kurz davor, die Lokalwahlen in mehreren ostdeutschen Bundesländern zu gewinnen. Nirgendwo deutlicher als in Thüringen. Hier wohnt Björn Höcke (52), AfD-Urgestein und verurteilter Faschist, Ex-Gymnasiallehrer, aktiver Langstreckenläufer und in den Augen vieler «der gefährlichste Mann Deutschlands». 1,7 Millionen Menschen haben eine Petition unterzeichnet, um ihm offiziell seine politischen Rechte zu entziehen. Doch Höcke steht kurz vor der Sensation.
Seine AfD vereint einen Drittel der Wählerschaft hinter sich, so viele wie keine andere Partei in Thüringen. Der Mann, der seit 2020 vom deutschen Verfassungsschutz observiert wird (und schon ebenso lang unter Polizeischutz steht), will Thüringer Ministerpräsident werden. Es wäre das erste Mal in der Nachkriegszeit, dass ein Rechtsextremer in Deutschland Regierungsverantwortung übernimmt.
Remigration und «Regenbogenimperium»
Höcke, aufgewachsen in einem sozialdemokratischen Haushalt in Westdeutschland, beherrscht die politische Provokation wie kein zweiter in der Bundesrepublik. Fleissig wie eine hungrige Biene reist er kreuz und quer durch Thüringen, von «Familienfesten» zu «Sommerfesten» (wie die AfD ihre Wahlkampfveranstaltungen nennt), mal nostalgisch auf einem alten DDR-«Simson»-Motorrad, oft in der schwarzen Limousine, immer mit schusssicherer Weste unter dem weissen Hemd. Sein Nektar: die Sorgen der Bürger. Sein Honig: radikales Fingerzeigen. Sein Stachel: tief im Fleisch der Nation, die er endlich «wachrütteln» will.
«Die Abteilung Thüringen im Weltsozialamt Deutschland ist geschlossen», donnert Höcke täglich aufs Neue von den Provinzbühnen seiner Wahlheimat. «Remigration» heisse die Lösung: Rückschaffung von Millionen Ausländern, die nicht nach Deutschland passen. In manchen Fällen fordert Höcke gar die Abschiebung von deutschen Mitbürgern, die ihm zu wenig deutsch sind. Und überhaupt: «Wir werden Europa als Festung bauen», verspricht Höcke – falls seine Partei jemals bundesweit ans Ruder kommen sollte.
Das «Regenbogenimperium», zu dem Deutschland verkomme, gefährde die Nation. Für «selbstzerstörerische Multikulti-Gesellschaftsexperimente» sei kein Platz. «Deutschland ist auf dem Weg zum gescheiterten Staat», sagt Höcke zu Blick, als wir ihn noch im vergangenen Jahr in der Frühphase des Wahlkampfs in seinem Büro in Erfurt besuchten.
AfD bei Bildungspolitik auf Linie der Schweizer FDP
Höcke ist ein freundlicher Mensch mit krass blauen Augen. Seine Hände sind auffällig wuchtig für einen so feingliedrigen Mann. Seine Sprache: geschliffen. Seine Uniform: stylische Slim-Fit-Anzüge, auch wenn er die nie so nennen würde. Anglizismen sind ihm ein Graus.
2017 versuchte ihn seine Partei noch wegen seiner gedanklichen Nähe zum Nationalsozialismus auszuschliessen. Inzwischen gibt Höcke in der AfD zweifellos den Ton an. Die Zeiten, in denen er – mutmasslich – unter dem Pseudonym Landolf Ladig fremdenfeindliche Gedanken für einschlägige Magazine verfasste und sich von Neonazis beim Umzug in sein 500-jähriges einstiges Pfarrhaus im 300-Seelen-Dorf Bornhagen helfen liess, sind vorbei. Jetzt, wo er so viel Einfluss gewinnen könnte wie nie zuvor, gibt sich Höcke gesittet. «Einfach ehrlich, einfach Björn», steht auf seinen Wahlplakaten. Ganz weit oben auf seiner Themenliste (gleich hinter der Remigration): Familien- und Bildungspolitik.
Höcke beklagt – wie hierzulande die FDP –, die Integration schwacher Schüler in Regelklassen sei ein «gescheitertes Ideologieprojekt», ein «Belastungsfaktor» für alle. Deshalb: abschaffen. Dafür wieder mehr Werkunterricht für Realschüler. Deutschland brauche mehr gute Handwerker.
Und mehr Kinder. Er, selbst Vater von vier Kindern, will Deutschland «zum familienfreundlichsten Land der Welt machen», sagt Höcke zu Blick. Die Kinderlosigkeit unter Politikern sei ein grosses Problem, «weil daraus eine zu starke Orientierung am Hier und Jetzt resultiert». Tönt genau wie drüben in Amerika, wo sich Donald Trumps (78) Vize-Kandidat J.D. Vance (39) über «kinderlose Katzenfrauen» lustig macht.
Höcke und J.D. Vance: Brüder im Geiste
In Trump erkennt sich Höcke selbst wieder. Genau wie der US-Republikaner sieht auch er sich als Opfer einer ungerechten Justiz. Allein dieses Jahr wurde er zweimal zu Geldstrafen verurteilt, weil er an Wahlveranstaltungen den in Deutschland verbotenen Ausspruch «Alles für Deutschland» (ein Motto von Hitlers Nazi-Prügelbande SA) ausgerufen hatte. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Höcke, der Historiker, behauptet, er habe das mit der SA nicht gewusst.
Verwedeln kann er. Und doch fällt er hie und da zurück in die gefährliche alte Sprache: «Im Osten kann uns der Durchbruch gelingen», verkündet Höcke stolz an den AfD-Familienfesten. Nur: Was dann? Bislang bietet niemand Hand für eine politische Zusammenarbeit mit der Rechts-Partei. «Wissen Sie, man kann eine Demokratie auch dadurch ruinieren, dass man grosse Bevölkerungsteile gar nicht mehr mitnimmt», sagt Höcke dazu im Gespräch mit Blick.
Diese Woche hat der AfD-Vordenker auf seinem Youtube-Kanal einen Dokumentarfilm über sich veröffentlicht. Gegen Schluss sieht man ihn in der Dämmerung Holz spalten, innehalten, wieder zuschlagen, das Beil fest in der Hand. Höcke, der Spalter. Davon zeugt nicht nur sein Holz. Davon zeugt sein ganzes Land. Es ist in tiefer Sorge. Er wegen der anderen. Die anderen wegen ihm. Nach diesem Sonntag wohl noch viel mehr.